Zur Eigenart der altlutherischen Kirche



von Gottfried Heyn, Hannover


Wenn man verstehen will, worin der Unterschied zwischen der evangelischen Landeskirche und der altlutherischen Kirche besteht, muss man ein wenig in die Kirchengeschichte schauen.

Seit den Tagen der Reformation - angefangen im Jahr 1517 - hatten sich in Deutschland zwei Richtungen reformatorischer Kirchen entwickelt: die lutherische, die sich auf Martin Luther beruft, und die reformierte oder auch calvinistische, die sich auf Huldrych Zwingli und Jean Calvin beruft. 1529 hatten sich Luther und Zwingli auf Betreiben der zur Reformation übergegangenen Fürsten in Marburg getroffen, um sich theologisch miteinander zu verständigen. Ziel war es, eine gemeinsame Haltung gegen die so genannte altgläubige Seite, die Anhänger des Papstes, einnehmen zu können. Leider ist dieses Marburger Religionsgespräch nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Luther und Zwingli hatten eine Liste von theologischen Streitpunkten abgearbeitet und sich sogar in allen Punkten bis auf einen geeinigt. Die Frage, ob Christus, der Herr der Kirche, bei der Feier des heiligen Abendmahls real, also wirklich anwesend sei in mit und unter den Gaben von Brot und Wein, haben beide Theologen unterschiedlich beantwortet. Luther beantwortete diese Frage mit ja, Zwingli dagegen erklärte, dass es sich lediglich um ein Gedächtnismahl handele, bei dem sich die Gemeinde an das Leiden und Sterben ihres Herrn erinnern solle. Über diese schwierige theologische Frage war keine Einigung zu erzielen. Beide begründeten ihre jeweilige Position mit Aussagen der Heiligen Schrift. (Daneben gab es [und gibt es] eine Reihe weiterer Lehrunterschiede zwischen lutherischer und reformierter Kirche.)

In den folgenden Jahrzehnten entstanden daraufhin lutherische und reformierte Landeskirchen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war kirchlich dreigespalten: Es gab Katholiken, Lutheraner und Reformierte. Alle bekriegten sich gegenseitig, aber keine Seite konnte den Religionskampf eindeutig und letztlich für sich entscheiden. Mehrere Versuche, den inneren Religionsstreit zu befrieden, waren nur teilweise erfolgreich. 1555 wurde der Augsburger Religionsfriede geschlossen, und 1648 beendete der Westfälische Friede von Münster und Osnabrück den verheerenden Dreißigjährigen Krieg in Deutschland.
Nur mühsam wurde dieser Friedenszustand im Reich aufrechterhalten. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen, Kriegen und Zwangsmaßnahmen gegenüber Andersgläubigen.

Schlesien war seit alter Zeit lutherisch. Die Stadt Breslau hatte sich schon früh der Reformation Martin Luthers angeschlossen. Der Luther-Schüler und Pfarrer an der St.-Maria-Magdalena-Kirche in Breslau, Johann Hess, hatte daran maßgeblichen Anteil. Er war seit 1523 in Breslau tätig.

Seit 1526 gehörten Teile Schlesiens den Habsburgern, die in jener Zeit nicht nur die deutschen Kaiser stellten, sondern auch streng altgläubig und papsttreu, sprich: katholisch, blieben. Unter ihrer Herrschaft setzte im 16. Jahrhundert die so genannte Gegenreformation ein. Dabei wurde gewaltsam versucht, die lutherisch gewordene Bevölkerung wieder in die römische Kirche zu zwingen. Teilweise hatten diese Gewaltmaßnahmen Erfolg. Doch gerade in Schlesien hielt sich der Widerstand hartnäckig.
Als der preußische König Friedrich II. 1740 mit seiner Armee in Schlesien einmarschierte, war die Zeit der Unterdrückung der evangelischen Bevölkerung Schlesiens zu Ende. Allerdings bahnte sich bald ein neues Problem an. Das preußische Herrscherhaus hatte aus Gründen der Heiratspolitik 1613 den lutherischen Glauben abgelegt und war reformiert, also calvinistisch, geworden. Es bestand somit die eigenartige Situation, dass das Herrscherhaus einer anderen Konfession angehörte als seine Untertanen. Dies war den preußischen Königen schon lange ein Dorn im Auge. Viele Versuche gab es, die beiden evangelischen Konfessionen miteinander auszusöhnen oder zu vereinen. Interessanterweise gingen diese Versuche fast immer zu Lasten der Lutheraner, die etwas von ihrem Glaubensgut aufgeben mussten, zunächst erst äußerlicher Art bei den Zeremonien des Gottesdienstes, später auch inhaltlicher Art.
Der preußische König Friedrich Wilhem III. hatte nach den napoleonischen Kriegen die Vision, sein Land in jeder Hinsicht zu erneuern und seine Macht zu festigen. In diesen Plan war auch die Kirche einbezogen. So ordnete er 1817 zum 300. Gedenktag der Reformation die Vereinigung der beiden evangelischen Kirchen in seinem Land an. Zeichen der Vereinigung sollte eine gemeinsame Abendmahlsfeier nach einer vom König selbst geschriebenen Agende (Gottesdienstbuch) sein. Es wurde also genau der theologische Streitpunkt zum Zeichen der Vereinigung gemacht, der 1529 strittig geblieben war.
Geistesgeschichtlich hatte am Ende des 18. Jahrhunderts die Zeit der Aufklärung begonnen. Neue wissenschaftliche Entdeckungen wurden gemacht. Die Menschen wurden durch moderne Staatsansichten von Lasten und Bedrückungen des Mittelalters befreit. In der Französischen Revolution brach sich der Freiheitswille der Menschen Bahn. Die alten gesellschaftlichen Klassen und Einteilungen wurden verändert. Zu diesen Veränderungen gehörte auch, dass vielen Menschen das Verständnis für theologische Fragen der Vergangenheit verloren ging. So kam es, dass ein Großteil der preußischen Bevölkerung die kirchliche Vereinigung, die so genannte Union, zwischen Lutheranern und Reformierten akzeptierte. Dass es gravierende theologische Unterschiede zwischen beiden Kirchen gibt, wussten viele nicht mehr.
Anders in Schlesien: Dort waren die Menschen durch die mehr als zweihundertjährige Bedrückung durch die von den Habsburgern betriebene Gegenreformation wacher im Blick auf Glaubensfragen als in anderen Gegenden Deutschlands. Sie meldeten Widerspruch gegen die Union an. Bis 1830 war die Union eine mehr oder weniger freiwillige Sache gewesen. Und was kümmerte es schlesische Bauern, was im fernen Potsdam oder Berlin in der Garnisonkirche für ein Gottesdienst gefeiert wurde. Im Jahr 1830 wurde die wichtigste lutherische Bekenntnisschrift, das Augsburgische Bekenntnis, 300 Jahre alt. Aus diesem Anlass sollte die vom König befohlene Union der beiden Kirchen nun endlich in allen Provinzen vollzogen werden. Per königlichem Erlass wurde das angeordnet.
Einspruch gegen diesen Eingriff in alte, angestammte kirchliche Rechte erhob der Breslauer Theologieprofessor Johann Gottfried Scheibel. Er wurde deshalb vorsorglich vor dem Vereinigungstermin von seinen Ämtern suspendiert, quasi mit Berufsverbot belegt. Da Scheibel zugleich Pastor an der St. Elisabethkirche in Breslau war, war er Prediger und Beichtvater für eine Anzahl Gemeindeglieder. Aus dieser Gruppe entstand am 25. Juni 1830 die erste lutherische Gemeinde in Breslau, die nicht zu der unierten, sprich: vereinigten evangelischen Staatskirche des preußischen Königs gehörte.
Scheibel hatte darauf hingewiesen, dass die theologischen Unterschiede auch in der Gegenwart noch relevant sind und hatte lediglich darum gebeten, für sich und seine Gemeinde das Recht zu erhalten, in der alten, herkömmlichen Weise lutherischen Gottesdienst feiern zu dürfen. Dieses Recht wurde ihm und seiner Gemeinde nicht zugestanden. Der preußische Staat witterte Aufruhr und Revolution. Dieses sollte aber mit allen Mitteln verhindert werden. Unterdessen meldeten sich in immer mehr Dörfern und Städten Schlesiens Menschen, die einfach ihren alten lutherischen Glauben behalten wollten. In wenigen Monaten hatte sich der lutherische Widerstand über ganz Preußen ausgebreitet. Zentrum blieb aber Schlesien mit Breslau an der Spitze. In Berlin setzte die Regierung alle Hebel in Bewegung, um den Widerstand zu brechen. Zehn Jahre lang, bis 1840, wurden die Lutheraner bespitzelt und polizeilich verfolgt, die Pastoren ohne Verurteilung ins Gefängnis gebracht, in Festungshaft genommen oder verbannt. Auf lutherische Pastoren wurden Kopfgelder ausgesetzt. In keiner Kirche durfte mehr lutherischer Gottesdienst gehalten werden. Sämtliche Einkünfte, die die lutherische Kirche seit alter Zeit hatte, gingen verloren. Die Lutheraner, die sich heimlich in den Wäldern zum Gottesdienst trafen, die ihre Kinder nicht von einem landeskirchlich-unierten Pfarrer taufen ließen usw., wurden mit harten Geldstrafen belegt. Teilweise wurden Kinder zwangsweise wiedergetauft. In Hönigern im Kreis Namslau wurde am Heiligabend des Jahres 1834 die Dorfkirche mit Hilfe von 500 Soldaten den Lutheranern weggenommen. Tausende wanderten in diesen Jahren nach Nordamerika und nach Australien aus und verließen für immer ihre Heimat.
Der König starb 1840, und sein Sohn, König Friedrich Wilhelm IV., beendete die Verfolgung. Er erließ 1845 ein Gesetz und gewährte den Lutheranern Duldung. Von nun an mussten sie sich ohne staatlichen Schutz, ohne staatliche Fürsorge, aber endlich ohne Verfolgung wieder organisieren. Inzwischen wurden sie als Altlutheraner beschimpft, weil sie bei ihrem alten lutherischen Glauben geblieben waren. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen war nun keine Landeskirche mehr, sondern eine so genannte Freikirche. Diese Tatsache machte sie immer wieder zur Außenseiterin. Aber das Festhalten am alten lutherischen Glauben war und ist ihren Kirchgliedern ganz wichtig.
Die Bezeichnung "altlutherisch" wurde später sogar Teil des Kirchennamens. Die Altlutheraner sahen den einstigen Schimpfnamen als Ehrennamen an.

Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) ist die Fortführung der altlutherischen Kirche in Preußen zusammen mit anderen lutherischen Freikirchen in ganz Deutschland. Sitz der Kirchenleitung und des Bischofs der SELK ist Hannover. Mehr Informationen finden Sie im Internet unter www.selk.de.



Johann Gottfried Scheibel, * 1783, + 1843, Professor der Theologie in Breslau seit 1811, Diakonus an St. Elisabeth in Breslau seit 1817, Suspension wegen seines Widerstandes gegen die Einführung der Union 1830, aus Preußen ausgewiesen 1832, im Exil in Sachsen 1832-1839, im Exil in Nürnberg, 1839-1843.

Eduard Gustav Kellner, * 1802, + 1878, Pfarrer in Hönigern 1826-1834, wegen Widerstandes gegen Einführung der Union von 1834 bis 1838 in Haft, Bedienung lutherischer Gemeinden in ganz Preußen im Untergrund 1839-1841, Pfarrer in Schwirz seit 1841