Der Aufbruch

Von Arthur Kalkbrenner


Wie ein in der Nähe niedergehender Blitzschlag schlug es ein, als die Russen in Tschenstochau gemeldet wurden. Schon kamen die ersten Flüchtlingstrecks aus dem Warthegau, die man um die Stadt leitete, um die Bevölkerung nicht noch mehr zu beunruhigen. Reste der geschlagenen oder geflüchteten deutschen Truppen durchfuhren die Stadt. Auf dem Ring parkte am Nachmittag des 18. Januar 1945 eine schwere Flak-Abteilung mit zwei Geschützen ohne Munition, übermüdet und erschöpft Offizier und Mann.


Feuerwehrautos aus dem Warthegau durchquerten die Stadt. Autos mit dicken "Besatzungsgewinnlern" versuchten, mit ihren "Schätzen" über die Oder zu entkommen, wurden aber vom NSKK geschnappt. Lastzüge aus Oberschlesien mit verschiedenstem Flüchtlingsgut wälzten sich durch das Krakauer Tor. Personenzug auf Personenzug, vollgepfropft mit Menschen, rollte, von Oberschlesien kommend, unter der hohen Brücke durch; auf den Dächern, in den Bremserhäuschen und auf den Trittbrettern sitzen die "Hiwis", die Hilfsfreiwilligen fremder Nationen. "Ah, Oberschlesien räumt, dann sind wir dran; es geht also doch nach einem geordneten Räumungsplan", so beruhigten sich manche unserer Landsleute noch am 19. Januar1945 und ahnten nicht, daß russische Aufklärungspanzer auf dem Weg nach Namslau waren, den nordöstlichen Teil des Kreises bereits durchstreiften und in Glausche ein Blutbad angerichtet hatten.


Ab Mitte Januar 1945 begannen die Namslauer, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen; denn die Verantwortlichen in Partei und Staat schwiegen beharrlich und versuchten sogar, zu beruhigen. Das Wort "Führer befiehl!" wirkte im Angesicht der tödlichen Gefahr nicht mehr. Die verzweifelte Volksseele machte sich vielmehr Luft mit Worten wie: "Die oben haben uns abgeschrieben, die sitzen ja sicher!" - Die meisten aber hofften im stillen immer noch auf eine gute Wendung; andere ergaben sich ihrem Schicksal. Nur wenige unserer Landsleute dachten ernstlich daran, in der Heimat bleiben und sich dem "Großmut des Siegers" ausliefern zu können. Hatte doch die Goebbelssche Propaganda - wie die späteren Erfahrungen bestätigten - in dieser Hinsicht durchaus nicht übertrieben. Auch dersowjetische, drohend schreiende, unseren schlesischen Sender überlagernde Propagandafunk war bei uns nicht ohne Wirkung geblieben.


So begann man, Wehrmachtsfahrzeuge anzuhalten, und die Soldaten nahmen in Kenntnis der gefährlichen Situation willig Mütter mit Kindern, Frauen und Mädchen mit. Wer im Besitz von Pferd und Wagen war, zottelte manchmal vollbeladen hintenherum über die Haselbachstraße dem Stadtwald zu oder über die Hohe Brücke in Richtung Schwirz. Ach, wie maßlos traurig stimmte ein solches Gefährt!


Hier und da ist schon ein Geschäft geschlossen. In den Gasthäusern sitzen flüchtende Soldaten bei Grog und Schnaps. Frau Fleischermeister Reichert steht vorder Ladentür im Gespräch mit Soldaten, denen sie schnell ein Stück "Warme" mit Semmel "verpaßt" hat. "Ja, sehen Sie, Herr Rektor", spricht sie mich freundlich an, "die Soldaten meenen ooch, daß wer wern furt missen; da muß ich halt ooch woas zesammpacken!" Ich kaufe ein, die Verkäuferin verlangt von mir Fleischmarken. Frau Bertel Reichert hört es, und mit einem echten derbschlesischen "Sch...! Sull der Russe oalles fressen?" ist die Fleischmarkenangelegenheit erledigt. Ihr gutes Herz kann nicht anders: "Ne weeche Zervelatwurscht fier die Kinder und ne "Harte" fier Euch uff'n Weg!"


Nach all dem, was ich in der Innenstadt sehe, bin ich doch sehr gedrückter Stimmung und in großer Sorge um meine Familie. Ich eile nach Hause. Da, telefonischer Anruf: "Bräustübel vom Armeekommando beschlagnahmt!" Das beruhigt mich etwas, denn diese Stäbe sitzen ja nach alter Erfahrung nicht gerade in vorderster Linie; also scheint die Lage nicht ganz so schwarz auszusehen. Kommt mein Hausmädchen: "Der Kreisleiter hat auf dem Ring verkündet, daß nicht geräumt wird, es ist wieder besser!"


Besteht zwischen diesen beiden Nachrichten ein Zusammenhang? Da wir in der Siedlung kaum etwas hören - Telefon schweigt meistens -, trifft meine Frau Vorbereitungen, legt Sachen für die drei Kinder, zweieinhalb und sechseinhalb Jahre alt, zurecht, näht kleine Leinenrucksäckchen für Wäsche, macht den Sportwagen fertig und packt auch einen Koffer. An ein rechtes Mittagessen ist nicht zu denken, zumal das Gas bei uns wenig Druck hat.
19. Januar 1945. Mit der Familie verlasse ich gegen 20.00 Uhr mein Heim und treffe gegenüber der "Totenschenke" - Gasthaus Schröder - auf eine Ansammlung von Nachbarfamilien, die auf der Brieger Straße eine Wehrmachtsfahrgelegenheit zu erhaschen versuchen. In der Kälte ist es ein bitteres und beinahe hoffnungsloses Warten. "Warum ist der Himmel so rot? Kommen Flieger?" so fragt mit ängstlichem Blick mein ältestes Kind. Gebe Gott, daß ich nie mehr in solche geängstigten Kinderaugen sehen muß!


Da, Feindflieger im Anflug! Auch als Luftschutzmann kann ich nur abwarten und Ruhe bewahren! Bombendetonationen in Richtung Böhmwitz, und der Spuk ist ausgestanden! Fliegeralarm wurde nicht gegeben, um die Räumung nicht zu gefährden.
Ich gehe zum Bahnhof, lasse die Familie im Windschutz einer Scheune zurück, um Fahrgelegenheit mit der Eisenbahn zu erkunden, jedoch ohne Erfolg. Inzwischen nimmt eine Wehrmacht-Werkstättenabteilung, von einem Oberleutnant der Feldpolizei zum Abladen gezwungen, meine Familie mit. Sie will durchaus meine Rückkunft abwarten, aber auf dringende Vorstellungen eines Wasserwerkarbeiters fährt sie doch in Richtung Brieg mit. Einsam und verlassen stehe ich in banger Sorge um die Meinen, aber auch bis zu einem gewissen Grade beruhigt, am Eingang zur Max-Gohla-Straße, wo ich Herrn Schoenfeld, meinen früheren Nachbarn, treffe, der meine und seine Familie soeben auf die Wehrmachtsautos verladen hatte.
Beide drückt uns der Gedanke, daß der Russe mit seinen Panzerspitzen schon über Schwirz hinaus in Richtung Brieg sein könnte. Wir betreten noch einmal unsere Wohnungen, das Licht funktioniert noch. Wir sehen das Durcheinander des hastigen Aufbruchs und schließen zum letzten Mal Haustür und Gartentürchen.
Es ist Nacht, wohl gegen 24.00 Uhr. Ich begebe mich über die Hohe Brücke in das Stadtinnere. Das Leben scheint erstorben. Verlassen liegen Straßen und Häuser unseres lieben Namslau. Nur einzelne Gestalten hasten, oft schwer bepackt, die Straßen entlang. Bedrückt vom plötzlichen Aufbruch und einer ungewissen Zukunft ziehen sie lautlos davon.


Dort öffnet sich noch knarrend die Haustür eines alten Bürgerhauses. Im düsteren Lichtschein des Flurs erkenne ich die alten Leutchen, die sich abmühen, ihre in der Aufregung zusammengepackte Habe durch die Türöffnung zu zwängen. Rührend besorgt ruft der "Voat'1": "Muttel, doaß de nich fällst, es sind drei Stuffen!" Der alte Ordnungssinn und die ererbte Sparsamkeit zeigen sich bei ihren Worten: "Mach doas Licht aus, schliß zu!" Auf dem ,Trettoire" bleiben beide a wing stiehn und schauen auf die obersten, jetzt im Dunkeln liegenden Fenster. Zwar durch das Leben hartgeworden, hat dieses Abschiednehmen doch ihre Augen feucht werden lassen. "Kumm, Muttel, wir miss'n giehn, es is Zeit!" höre ich noch seine fürsorglich klingende Stimme und weiter, "der Zug woartet nich!"
Also muß wohl doch in letzter Stunde noch ein Eisenbahnzug zum Abtransport der flüchtenden Namslauer eingesetzt worden sein, kommt es mir in den Sinn. Ich eile zum Bahnhof. Am ersten Bahnsteig steht ein sehr langer Transportzug mit geöffneten Türen, vollbesetzt bis auf den letzten Platz mit Frauen, alten Leuten und Kindern, Koffer und anderes Gepäck in Gepäcknetzen und Gängen. Zuletzt Ankommende werden noch eilig verfrachtet. Eine stille Hoffnung, daß ich als Schwerkriegsbeschädigterein Anrecht zur Mitfahrt hätte, zumal ich nur einen kleinen Handkoffer trug, erwies sich als trügerisch; ich wurde von einem "Ordner", der vorsichtshalber wohl schon die Parteiuniform ausgezogen hatte, barsch abgewiesen.


Auf meine Frage an uniformierte Amtsträger der NSDAP, die auf dem Bahnsteig standen, ob noch weitere Transportzüge eingesetzt würden, wurde mir eine wenig hoffnungsvolle Antwort zuteil; selbst Bahnbeamte wußten nichts Genaues.
Es zeigte sich, daß von der Parteiführung, insbesondere vom Gauleiter, nichts organisiert war, um einen schnellen und reibungslosen Abtransport der Bevölkerung zu gewährleisten. Herrn Dr. Heinrich, dem damaligen Landrat, bleibt das Verdienst, durch sein entschlossenes Handeln im Augenblick höchster Gefahr, die Bereitstellung von Transportzügen an höherer Stelle erwirkt zu haben.


Enttäuscht verließ ich den Bahnhof in dem Gedanken, daß es nun an der Zeit sei, ernstlich an das eigene Wegkommen zu denken. Auf dem Wege zur Kreisleitung im ehemaligen Finanzamt treffe ich eine auf einer Bank der Postpromenade sitzende schluchzende Mutter, ein Kleinkind eingewickelt im Arm und einen kleinen Jungen, den Kopf schlafend in ihren Schoß gekuschelt. Sie hatten sich von einem Bauerntreck gelöst in der Hoffnung, in unserer Stadt die Möglichkeit zum Weiterkommen zu finden. Die Mutter war völlig mutlos, drei Tage Treck aus dem Warthegau! Es bedurfte des herzlichsten Zuredens, sie mit den Kindern der nahen Rettung, dem Namslauer Bahnhof, zuzuführen. Sie konnte kein Wort des Dankes herausbringen, wohl aber: "Hier frieren die Kinder nicht - geht aber auch ein Zug?"


In der Kreisleitung herrschte aufgeregte Stimmung unter den Amtswaltern; dazu waren die uniformierten Volkssturmführer versammelt. Es war ein Gedränge auf Fluren und Treppen; man flüsterte unkontrollierbare Gerüchte und machte sich gegenseitig Mut. Da aus den verlassenen Fleischereien und Bäckereien ausreichend Ware in Körben herumstand, "bediente" ich mich. Da ich hier jedoch nichts auskundschaften konnte, wie man am besten und schnellsten über die Oder kam, hielt ich es für gegeben, dieses "gastliche" Haus zu verlassen, um nicht womöglich mit einem Amt bedacht zu werden, das anderen nicht zusagte.


Ich lungerte auf dem Pietzonkaplatz herum in der Erwartung, daß sich eine Fahrgelegenheit bieten würde. Im Laufschritt kam ausgepumpt eine kleine Infanterie-Einheit über die Hohe Brücke, um gegen den Feind eingesetzt zu werden. Arme Landser, ohne schwere Waffen, scheinbar Teile einer Genesenenformation! Denn hinterher kamen gesammelte Fußkranke und solche Soldaten, die "lazarettfähig" waren.


Ich spielte mit dem Gedanken, den Fußmarsch anzutreten, aber mit Koffer unmöglich! In der Stille der Nacht hörte man die Abschüsse von Geschützen. Die waren zwar noch sehr entfernt, aber das konnte sich schnell ändern.
Also auf, noch einmal zum Bahnhof! In den Straßen istesstockfinster; kein Lichtschein verrät, daß noch Bewohner in den Häusern sind. Nur wenige alte Leute können sich nicht zu einer "Hals-über-Kopf-Flucht" entschließen und bleiben; denn die Russen seien ja auch Menschen und würden alten Leuten nichts tun.


So oderähnlich dachten aus unsere lieben Mitbürger, SchuhmachermeisterGottliebJ. und seine Frau. Er hatte herumgehorcht am 19. Januar 1945 abends und hier und dort gehört: Wir bleiben! Als am Samstag, dem 20. Januar, unser Meister ausgeschlafen aufsteht, stellt er fest, daß keine Menschenseele mehr im Haus ist. Das macht ihn und seine Frau bedenklich. Er findet auf der Straße und auf dem Ring keinen Menschen. Zwei Soldaten treffen die Meisterin im Hofe an: "Schnell raus, auf den Bahnhof, der letzte Zug fährt gleich ab!" "Na ja, da missen wer halt', meint der Meister. Aber Mutters Schuhe sind kaputt. Also flink auf den Schusterschemel und besohlt, während Frau J. einiges in Eile zusammenpackt. Sie gehen zum Bahnhof und steigen in den letzten Eisenbahnzug, der das deutsche Namslau verläßt.

Fundstelle: Namslauer Heimatruf Nr.33, S.25, und Nr.35, S.8