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Wie ein in der Nähe niedergehender Blitzschlag schlug
es ein, als die Russen in Tschenstochau gemeldet wurden. Schon kamen die ersten Flüchtlingstrecks
aus dem Warthegau, die man um die Stadt leitete, um die Bevölkerung nicht noch
mehr zu beunruhigen. Reste der geschlagenen oder geflüchteten deutschen Truppen
durchfuhren die Stadt. Auf dem Ring parkte am Nachmittag des 18. Januar 1945 eine schwere
Flak-Abteilung mit zwei Geschützen ohne Munition, übermüdet und erschöpft
Offizier und Mann.
Feuerwehrautos aus dem Warthegau durchquerten die Stadt. Autos mit dicken "Besatzungsgewinnlern"
versuchten, mit ihren "Schätzen" über die Oder zu entkommen, wurden
aber vom NSKK geschnappt. Lastzüge aus Oberschlesien mit verschiedenstem Flüchtlingsgut
wälzten sich durch das Krakauer Tor. Personenzug auf Personenzug, vollgepfropft
mit Menschen, rollte, von Oberschlesien kommend, unter der hohen Brücke durch;
auf den Dächern, in den Bremserhäuschen und auf den Trittbrettern sitzen
die "Hiwis", die Hilfsfreiwilligen fremder Nationen. "Ah, Oberschlesien
räumt, dann sind wir dran; es geht also doch nach einem geordneten Räumungsplan",
so beruhigten sich manche unserer Landsleute noch am 19. Januar1945 und ahnten nicht,
daß russische Aufklärungspanzer auf dem Weg nach Namslau waren, den nordöstlichen
Teil des Kreises bereits durchstreiften und in Glausche ein Blutbad angerichtet hatten.
Ab Mitte Januar 1945 begannen die Namslauer, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen;
denn die Verantwortlichen in Partei und Staat schwiegen beharrlich und versuchten sogar,
zu beruhigen. Das Wort "Führer befiehl!" wirkte im Angesicht der tödlichen
Gefahr nicht mehr. Die verzweifelte Volksseele machte sich vielmehr Luft mit Worten
wie: "Die oben haben uns abgeschrieben, die sitzen ja sicher!" - Die meisten
aber hofften im stillen immer noch auf eine gute Wendung; andere ergaben sich ihrem
Schicksal. Nur wenige unserer Landsleute dachten ernstlich daran, in der Heimat bleiben
und sich dem "Großmut des Siegers" ausliefern zu können. Hatte
doch die Goebbelssche Propaganda - wie die späteren Erfahrungen bestätigten
- in dieser Hinsicht durchaus nicht übertrieben. Auch dersowjetische, drohend
schreiende, unseren schlesischen Sender überlagernde Propagandafunk war bei uns
nicht ohne Wirkung geblieben.
So begann man, Wehrmachtsfahrzeuge anzuhalten, und die Soldaten nahmen in Kenntnis
der gefährlichen Situation willig Mütter mit Kindern, Frauen und Mädchen
mit. Wer im Besitz von Pferd und Wagen war, zottelte manchmal vollbeladen hintenherum
über die Haselbachstraße dem Stadtwald zu oder über die Hohe Brücke
in Richtung Schwirz. Ach, wie maßlos traurig stimmte ein solches Gefährt!
Hier und da ist schon ein Geschäft geschlossen. In den Gasthäusern sitzen
flüchtende Soldaten bei Grog und Schnaps. Frau Fleischermeister Reichert steht
vorder Ladentür im Gespräch mit Soldaten, denen sie schnell ein Stück
"Warme" mit Semmel "verpaßt" hat. "Ja, sehen Sie, Herr
Rektor", spricht sie mich freundlich an, "die Soldaten meenen ooch, daß
wer wern furt missen; da muß ich halt ooch woas zesammpacken!" Ich kaufe
ein, die Verkäuferin verlangt von mir Fleischmarken. Frau Bertel Reichert hört
es, und mit einem echten derbschlesischen "Sch...! Sull der Russe oalles fressen?"
ist die Fleischmarkenangelegenheit erledigt. Ihr gutes Herz kann nicht anders: "Ne
weeche Zervelatwurscht fier die Kinder und ne "Harte" fier Euch uff'n Weg!"
Nach all dem, was ich in der Innenstadt sehe, bin ich doch sehr gedrückter Stimmung
und in großer Sorge um meine Familie. Ich eile nach Hause. Da, telefonischer
Anruf: "Bräustübel vom Armeekommando beschlagnahmt!" Das beruhigt
mich etwas, denn diese Stäbe sitzen ja nach alter Erfahrung nicht gerade in vorderster
Linie; also scheint die Lage nicht ganz so schwarz auszusehen. Kommt mein Hausmädchen:
"Der Kreisleiter hat auf dem Ring verkündet, daß nicht geräumt
wird, es ist wieder besser!"
Besteht zwischen diesen beiden Nachrichten ein Zusammenhang? Da wir in der Siedlung
kaum etwas hören - Telefon schweigt meistens -, trifft meine Frau Vorbereitungen,
legt Sachen für die drei Kinder, zweieinhalb und sechseinhalb Jahre alt, zurecht,
näht kleine Leinenrucksäckchen für Wäsche, macht den Sportwagen
fertig und packt auch einen Koffer. An ein rechtes Mittagessen ist nicht zu denken,
zumal das Gas bei uns wenig Druck hat.
19. Januar 1945. Mit der Familie verlasse ich gegen 20.00 Uhr mein Heim und treffe
gegenüber der "Totenschenke" - Gasthaus Schröder - auf eine Ansammlung
von Nachbarfamilien, die auf der Brieger Straße eine Wehrmachtsfahrgelegenheit
zu erhaschen versuchen. In der Kälte ist es ein bitteres und beinahe hoffnungsloses
Warten. "Warum ist der Himmel so rot? Kommen Flieger?" so fragt mit ängstlichem
Blick mein ältestes Kind. Gebe Gott, daß ich nie mehr in solche geängstigten
Kinderaugen sehen muß!
Da, Feindflieger im Anflug! Auch als Luftschutzmann kann ich nur abwarten und Ruhe
bewahren! Bombendetonationen in Richtung Böhmwitz, und der Spuk ist ausgestanden!
Fliegeralarm wurde nicht gegeben, um die Räumung nicht zu gefährden.
Ich gehe zum Bahnhof, lasse die Familie im Windschutz einer Scheune zurück, um
Fahrgelegenheit mit der Eisenbahn zu erkunden, jedoch ohne Erfolg. Inzwischen nimmt
eine Wehrmacht-Werkstättenabteilung, von einem Oberleutnant der Feldpolizei zum
Abladen gezwungen, meine Familie mit. Sie will durchaus meine Rückkunft abwarten,
aber auf dringende Vorstellungen eines Wasserwerkarbeiters fährt sie doch in Richtung
Brieg mit. Einsam und verlassen stehe ich in banger Sorge um die Meinen, aber auch
bis zu einem gewissen Grade beruhigt, am Eingang zur Max-Gohla-Straße, wo ich
Herrn Schoenfeld, meinen früheren Nachbarn, treffe, der meine und seine Familie
soeben auf die Wehrmachtsautos verladen hatte.
Beide drückt uns der Gedanke, daß der Russe mit seinen Panzerspitzen schon
über Schwirz hinaus in Richtung Brieg sein könnte. Wir betreten noch einmal
unsere Wohnungen, das Licht funktioniert noch. Wir sehen das Durcheinander des hastigen
Aufbruchs und schließen zum letzten Mal Haustür und Gartentürchen.
Es ist Nacht, wohl gegen 24.00 Uhr. Ich begebe mich über die Hohe Brücke
in das Stadtinnere. Das Leben scheint erstorben. Verlassen liegen Straßen und
Häuser unseres lieben Namslau. Nur einzelne Gestalten hasten, oft schwer bepackt,
die Straßen entlang. Bedrückt vom plötzlichen Aufbruch und einer ungewissen
Zukunft ziehen sie lautlos davon.
Dort öffnet sich noch knarrend die Haustür eines alten Bürgerhauses.
Im düsteren Lichtschein des Flurs erkenne ich die alten Leutchen, die sich abmühen,
ihre in der Aufregung zusammengepackte Habe durch die Türöffnung zu zwängen.
Rührend besorgt ruft der "Voat'1": "Muttel, doaß de nich
fällst, es sind drei Stuffen!" Der alte Ordnungssinn und die ererbte Sparsamkeit
zeigen sich bei ihren Worten: "Mach doas Licht aus, schliß zu!" Auf
dem ,Trettoire" bleiben beide a wing stiehn und schauen auf die obersten, jetzt
im Dunkeln liegenden Fenster. Zwar durch das Leben hartgeworden, hat dieses Abschiednehmen
doch ihre Augen feucht werden lassen. "Kumm, Muttel, wir miss'n giehn, es is Zeit!"
höre ich noch seine fürsorglich klingende Stimme und weiter, "der Zug
woartet nich!"
Also muß wohl doch in letzter Stunde noch ein Eisenbahnzug zum Abtransport der
flüchtenden Namslauer eingesetzt worden sein, kommt es mir in den Sinn. Ich eile
zum Bahnhof. Am ersten Bahnsteig steht ein sehr langer Transportzug mit geöffneten
Türen, vollbesetzt bis auf den letzten Platz mit Frauen, alten Leuten und Kindern,
Koffer und anderes Gepäck in Gepäcknetzen und Gängen. Zuletzt Ankommende
werden noch eilig verfrachtet. Eine stille Hoffnung, daß ich als Schwerkriegsbeschädigterein
Anrecht zur Mitfahrt hätte, zumal ich nur einen kleinen Handkoffer trug, erwies
sich als trügerisch; ich wurde von einem "Ordner", der vorsichtshalber
wohl schon die Parteiuniform ausgezogen hatte, barsch abgewiesen.
Auf meine Frage an uniformierte Amtsträger der NSDAP, die auf dem Bahnsteig standen,
ob noch weitere Transportzüge eingesetzt würden, wurde mir eine wenig hoffnungsvolle
Antwort zuteil; selbst Bahnbeamte wußten nichts Genaues.
Es zeigte sich, daß von der Parteiführung, insbesondere vom Gauleiter, nichts
organisiert war, um einen schnellen und reibungslosen Abtransport der Bevölkerung
zu gewährleisten. Herrn Dr. Heinrich, dem damaligen Landrat, bleibt das Verdienst,
durch sein entschlossenes Handeln im Augenblick höchster Gefahr, die Bereitstellung
von Transportzügen an höherer Stelle erwirkt zu haben.
Enttäuscht verließ ich den Bahnhof in dem Gedanken, daß es nun an
der Zeit sei, ernstlich an das eigene Wegkommen zu denken. Auf dem Wege zur Kreisleitung
im ehemaligen Finanzamt treffe ich eine auf einer Bank der Postpromenade sitzende schluchzende
Mutter, ein Kleinkind eingewickelt im Arm und einen kleinen Jungen, den Kopf schlafend
in ihren Schoß gekuschelt. Sie hatten sich von einem Bauerntreck gelöst
in der Hoffnung, in unserer Stadt die Möglichkeit zum Weiterkommen zu finden.
Die Mutter war völlig mutlos, drei Tage Treck aus dem Warthegau! Es bedurfte des
herzlichsten Zuredens, sie mit den Kindern der nahen Rettung, dem Namslauer Bahnhof,
zuzuführen. Sie konnte kein Wort des Dankes herausbringen, wohl aber: "Hier
frieren die Kinder nicht - geht aber auch ein Zug?"
In der Kreisleitung herrschte aufgeregte Stimmung unter den Amtswaltern; dazu waren
die uniformierten Volkssturmführer versammelt. Es war ein Gedränge auf Fluren
und Treppen; man flüsterte unkontrollierbare Gerüchte und machte sich gegenseitig
Mut. Da aus den verlassenen Fleischereien und Bäckereien ausreichend Ware in Körben
herumstand, "bediente" ich mich. Da ich hier jedoch nichts auskundschaften
konnte, wie man am besten und schnellsten über die Oder kam, hielt ich es für
gegeben, dieses "gastliche" Haus zu verlassen, um nicht womöglich mit
einem Amt bedacht zu werden, das anderen nicht zusagte.
Ich lungerte auf dem Pietzonkaplatz herum in der Erwartung, daß sich eine Fahrgelegenheit
bieten würde. Im Laufschritt kam ausgepumpt eine kleine Infanterie-Einheit über
die Hohe Brücke, um gegen den Feind eingesetzt zu werden. Arme Landser, ohne schwere
Waffen, scheinbar Teile einer Genesenenformation! Denn hinterher kamen gesammelte Fußkranke
und solche Soldaten, die "lazarettfähig" waren.
Ich spielte mit dem Gedanken, den Fußmarsch anzutreten, aber mit Koffer unmöglich!
In der Stille der Nacht hörte man die Abschüsse von Geschützen. Die
waren zwar noch sehr entfernt, aber das konnte sich schnell ändern.
Also auf, noch einmal zum Bahnhof! In den Straßen istesstockfinster; kein Lichtschein
verrät, daß noch Bewohner in den Häusern sind. Nur wenige alte Leute
können sich nicht zu einer "Hals-über-Kopf-Flucht" entschließen
und bleiben; denn die Russen seien ja auch Menschen und würden alten Leuten nichts
tun.
So oderähnlich dachten aus unsere lieben Mitbürger, SchuhmachermeisterGottliebJ.
und seine Frau. Er hatte herumgehorcht am 19. Januar 1945 abends und hier und dort
gehört: Wir bleiben! Als am Samstag, dem 20. Januar, unser Meister ausgeschlafen
aufsteht, stellt er fest, daß keine Menschenseele mehr im Haus ist. Das macht
ihn und seine Frau bedenklich. Er findet auf der Straße und auf dem Ring keinen
Menschen. Zwei Soldaten treffen die Meisterin im Hofe an: "Schnell raus, auf den
Bahnhof, der letzte Zug fährt gleich ab!" "Na ja, da missen wer halt',
meint der Meister. Aber Mutters Schuhe sind kaputt. Also flink auf den Schusterschemel
und besohlt, während Frau J. einiges in Eile zusammenpackt. Sie gehen zum Bahnhof
und steigen in den letzten Eisenbahnzug, der das deutsche Namslau verläßt.
Fundstelle: Namslauer Heimatruf Nr.33, S.25, und Nr.35, S.8
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