Der Treck von Grambschütz


Bericht von Lotte Koschny 1)

a) Einleitung

Meine Mutter war damals 36 Jahre alt. Sie stand mit ihren vier Kindern im Alter von zehn, acht, sechs und zweieinhalb Jahren allein. Mein Vater war Unterfeldmeister im Reichsarbeitsdienst und lag mit seiner Abteilung in einer Flakstellung in Beckern bei Breslau. Grambschütz war ein Dorf mit 600 Einwohnern. Hier hatte Graf Henckel von Donnersmarck sein Schloß und ein großes Gut. Die Wagen des Gutes stellten den größten Teil des Trecks. Da sich auf einem Teil der Strecke das Dorf Reichen angeschlossen hatte, zählte der Treck fast 1000 Personen, meist Frauen und Kinder. Dr. Grothe als Verwalter des Gutes übernahm die Leitung des Trecks. Ihm oblag die Planung der Fahrtroute, die Organisation der Quartiere und die Bereitstellung der Verpflegung. Seiner Umsicht und seinem Organisationstalent ist es zu danken, daß so viele Menschen im Landkreis Rottal-Inn ankamen. Seine rechte Hand war Johann Pocha, erster Kutscher auf dem Gut, der den Treck anführte. Und noch ein Name ist zu nennen, der eines damals fünfzehnjährigen Jungen: Karl Stannek. Er hatte ein Fahrrad mitgenommen und tat Dienst als Kurier. Was das damals in fremder Gegend, bei eisiger Kälte, auf verstopften Straßen, zwischen Tecks und Soldaten bedeutete, können wir heute kaum mehr ermessen.
Der Treck hatte eine feste Ordnung: Voran zog ein Ponygespann des Gutes. Ihm folgte die Kutsche. Nun schlossen sich die gummibereiften Wagen des Gutes an. Den Schluß bildeten die eisenbereiften Wagen der Bauern. Johann Pocha hatte ein Reitpferd und war überall zur Stelle, wo er gebraucht wurde. Dr. Grothe fuhr dem Treck meist in einem Einspänner voraus, um die Organisation zu erledigen.
b) Fluchtbericht

Am 19. Januar 1945 um 11.00 Uhr klopfte es bei uns an die Tür. Herr Pocha vom Gut ließ uns sagen, in zwei Stunden müssen wir Grambschütz verlassen haben. Nun wurden die Kinder geweckt und warm angezogen. Bald kam Herr Pocha wieder und versprach, es käme ein Wagen vom Gut, der unser Gepäck auflädt. Wir warteten fast eine Stunde, aber es kam keiner. Jetzt gingen wir in den Gutshof. Dort waren schon alle Wagen beladen und bespannt. Für uns und unser Gepäck gab es keinen Platz. Ich fragte den Bürgermeister, der auch schon mit seinem fertigen Wagen im Hof stand. Etwas Gepäck wollte er uns mitnehmen, aber wir müßten es ihm schnell hinbringen. Eilig gingen wir nach Hause und fuhren mit dem Handwagen und einem Schlitten ein großes Paket Betten und den größten Koffer zu ihm hin. Es war kaum noch durchzukommen, denn viele Wagen aus Reichen standen schon auf der Straße.
Auf dem Rückweg fragten wir beim nächsten Bauern. Der hatte auch für uns keinen Platz mehr. Beim Bauern Flack hatten wir Glück. Dem konnten wir noch etwas aufladen. Jetzt ging es wieder nach Hause. Wagen und Schlitten wurden wieder beladen, die Decken mitgenommen, und Marianne (sechs Jahre) und Bärbel (zweieinhalb Jahre) mußten auch mit. Wir verschlossen unsere Wohnung, noch in der Hoffnung, daß wir bald zurückkommen. Bei Flack konnten wir das Gepäck aufladen, auch die beiden Jungen (zehn und acht Jahre) blieben auf dem Wagen. Mit Bärbel und Marianne ging ich weiter, um in der Dunkelheit einen Platz zu suchen. Dabei begegnete ich dem Ortsbauernführer. Den fragte ich, ob er nicht wüßte, wo die beiden Mädchen unterkommen könnten. "Wenn kein Platz ist, bleibt ihr eben hier", war die freundliche Antwort. Endlich konnte ich Bärbel, die erst zweieinhalb Jahre war, in einem geschlossenen Wagen unterbringen, Marianne in einem anderen. Um 1.00 Uhr nachts fuhren wir aus dem Dorf hinaus.
Nach unserem Marschbefehl mußten wir den Feldweg über Alt-Grambschütz nach Simmelwitz nehmen. I n Groß-Marchwitz kamen wir dann auf die Straße, aber diese war spiegelglatt. Jetzt fing es an, Tag zu werden. Es gab eine kleine Ruhepause, damit auch die Nachzügler rankamen. Ich konnte nach den Kindern schauen und ihnen etwas zu essen bringen. Bald ging es weiter. Unser erstes Ziel war Prietzen. Dort kamen wir nachmittags gegen 3.00 Uhran. Schwester Charlotte hatte uns in einem kleinen Gehöft ein Quartier gesucht. Die Dorfbewohner waren bereits geflohen. Das Vieh im Stall schrie vor Hunger. Ein paar Mädchen fütterten und molken die Kühe. Wir fütterten das Geflügel und den Hund an der Kette. In der Küche, die nicht sehr freundlich aussah, bereiteten wir uns von den mitgebrachten Lebensmitteln etwas zu essen. Mit der Milch kochten wir uns Kakao. Dann legten wir fünf uns in die drei Betten, die für uns bestimmt waren.


Sonntag, 21. Januar 1945: Früh um 7.00 Uhr mußte alles zum Weiterfahren fertig sein. Die kleinen Kinder durften auf den Wagen sitzen, die schulpflichtigen mußten laufen. Bärbel saß mit Frau Kopka auf dem Wagen von Flack. Heute sollte es über die Oder gehen. Wir kamen aber nur 8 km weit bis Steindorf. Die Straße war verstopft. Wir standen fünf Stunden vor einem Wald. Dann gab Dr. Grothe den Befehl, nach Steindorf, welches auch schon geräumt war, zu fahren und dort zu übernachten. Wir fanden in einer Zigarrenfabrik ein Zimmer mit fünf Betten. Auch ein Ofen stand drin.


Montag, 22. Januar 1945: Früh um halb sieben brachen wir in Richtung Breslau auf. Ich hoffte, wir kommen durch Beckern, denn hier lag mein Mann. Gegen mittag gelangten wir tatsächlich nach Beckern. Unser Wagen kam gerade beim Wegweiser zur RADAbteilung zum Stehen. Herr Flack sagte: "Suchen Sie nur gleich ihren Mann, so lange ist schon Zeit." Frau Sonnek und Schwester Charlotte begleiteten mich. Wir mußten lange suchen. Der Treck bewegte sich schon wieder. Ich fuhr, so schnell ich konnte, an ihm vorbei nach Markstätt. Markstätt war auch schon geräumt. Auf der Straße stand ein Arbeitsmann. Ich fuhr schnell zu ihm hin und fragte nach meinem Mann. Da schaute er sich um und sagte: "Da kommt er ja!" Ich lief zu ihm hin. Er wußte nicht, was er sagen sollte, als ich vor ihm stand. Er glaubte uns längst in Sicherheit. Wir fuhren zurück zu den Kindern. Mein ältester Sohn war krank. Er saß wie ein Häufchen Elend, in Decken gehüllt, auf Flacks Wagen. Bärbel weinte vor Kälte. Jetzt fuhren wir nochmals in die Bäckerei und bekamen dort drei Brote. So hatten wir für die nächsten Tage zu essen. Der Treck blieb für eine Stunde stehen. Wir konnten noch zusammensitzen. Dann mußten wir uns trennen, keiner wußte für wie lange. Wir erfuhren, daß wir auch in Breslau nicht über die Oderbrücke können. Wir müssen bei Großbrück über das Eis. Es war fast dunkel, als wir an die Furt kamen. Das Überfahren des Eises war mit großen Schwierigkeiten verbunden. Wir stießen auf deutsche Soldaten, die einen Brückenkopf bildeten und das Eis schon zur Sprengung vorbereitet hatten. Die Kinder und alten Leute mußten von den Wagen runter und wurden von den Soldaten zwischen den Minen hindurchgeführt. Die Wagen wurden von vielen menschlichen Hilfskräften die Uferböschung hinuntergelassen, rollten dann zwischen den Minen über das Eis und wurden von vielen Pferdekräften das jenseitige Oderufer hinaufgezogen. Es war bereits völlig dunkel, als das schwierige Werk beendet war. Auf einer Straße, die auf beiden Seiten von hohen Pappeln gesäumt war, nahm der Treck wieder Aufstellung. Bald ging es weiter. Ein Teil des Trecks zog nach Rohrau, ein anderer nach Saulwitz, ein dritter auf ein Vorwerk von Kraftborn. Unsere Wagen fuhren nach Grebelwitz. Mariannes Wagen war mit Gesuks Wagen nach Rohrau gefahren. Ich konnte sie nicht mehr holen, die Nachbarn mußten sich um sie kümmern. Gegen 9.00 Uhr abends kamen wir in Grebelwitz an. Die Kinder waren fast zusammengefroren, wir konnten kaum noch laufen. Ich fand eine offene Haustür. In einer kleinen Küche saßen zwei Frauen und zwei Soldaten. Auf mein Bitten hin konnten wir in der Küche übernachten. Wir holten ein paar Betten vom Wagen, legten sie auf die Erde und schliefen darauf. Es war so eng, daß wir kaum nebeneinander liegen konnten. Bärbel hat in der Nacht oft geweint.


Mittwoch, 24. Januar 1945: Früh um 1/26 Uhr holte uns Frau Hofrichter aus den Betten. Sie sagte, die Wagen stehen schon auf der Straße, wir müssen weiter. Ganz schnell wurden die Sachen zusammengepackt. Am Nachmittag kamen wir in Petrigau an.


25. Januar 1945: Es ging weiter über Groß-Tinz, Jordansmühl, Zobten nach KleinBielau. Wir wurden in den Kreis Landeshut umgeleitet statt in den Kreis Reichenbach. So standen wirohne Quartiere da. Zum Glück begegnete Dr. Grothe dem Schafmeister des Gutes, den er von früher her kannte. Dieser erklärte sich bereit, seine Schafherde im Freien übernachten zu lassen und den großen massiven Schafstall für uns frei zu machen. Die Pferde mußten vor den Wagen im Hof stehenbleiben. Mein Sohn bekam
eine Entzündung im Gesicht und mußte von Schwester Charlotte verbunden werden. Dabei wurden ihm seine dicken Handschuhe gestohlen.


27. Januar 1945: Es ging weiter über Schweidnitz nach Freiburg. In Schweidnitz hatten wir noch Gelegenheit, Brot und Wurst zu kaufen. Es dauerte fast zwei Stunden, bis wir durch Schweidnitz kamen. Abends konnten wir wegen eines gefährlichen Berges nicht weiterfahren. Wir bekamen eine gute Kartoffelsuppe mit Wursteinlage. Die Pferde mußten wieder am Wagen bleiben in dieser kalten Nacht, die Menschen mußten sich kümmern.


28. Januar 1945: Wie immer ging es früh um 7 Uhr weiter. Nach kurzer Zeit mußten wir einen gefährlichen Berg hinunterfahren. Mir wurde geraten, Marianne und Bärbel vom Wagen zu nehmen. Ich lieh mir einen Schlitten, verpackte die beiden gut in Decken und zog so neben dem Treck her. Gesuks Wagen, in dem Marianne gesessen hatte, verunglückte den Berg hinunter. Es war nicht schlimm, aber doch gut, daß sie nicht drin war. Gegen Mittag gelangten wir in das sehr langgezogene Gebirgsdorf Altreichenau. Wir fanden Quartier bei zwei sehr netten alten Leuten. Zur Feier des Tages konnten wir uns wieder einmal richtig waschen.


29. Januar 1945: Um 7 Uhr verließen wir Altreichenau. Wir zogen immer noch mit unserem kleinen Schlitten neben dem Treck her. In Grüssau erhielten wir eine unheizbare Dachkammer zugewiesen. Da es bei der Kälte nicht möglich war, daß die Kinder dort schliefen, schlugen wir unser Lager in der Küche auf Strohsäcken auf, die früh wieder weggeräumt wurden. Hier lebten wir zwölf Tage. Dann bekamen wir in einem Mehrfamilienhaus ein Schlafzimmer mit zwei Betten und einem Kinderbett. Die Küche mußten wir uns mit einer Familie aus Wilkau teilen. Jetzt hatten wir es nicht mehr so weit, wenn wir einkaufen gingen.


Am Mittwoch, 14. Februar 1945, früh brachten wir unser Gepäck zum Wagen. Als wir einspannen wollten, hatten wir keine richtige Ziehwaage und keine Steuerketten. Als wir endlich abfuhren, war der Treck schon zwei Stunden voraus. (Anm.: Auf dem Wagen, einem kleinen Kastenwagen, war das Gepäck von einer alleinstehenden Frau, einem alten Vater mit seiner Tochter, unserer Familie mit fünf Personen und dem polnischen Fahrer mit seinem Sohn. Bei den Pferden handelte es sich um Panjepferdchen, wie wir damals sagten, eine kleine Rasse, die aus dem Osten zu uns kam. Sie fuhren später die Milch von Asenham nach Birnbach.) Zum Glück stand an der ersten Kreuzung Inspektor Storek, der uns den Weg zeigte, denn wir wußten nicht einmal, wo wir hinfahren sollten. - Unser Tagesziel war Parchnitz. Hier hatten wir unseren Treck eingeholt.


16. Februar 1945: Wir zogen überTrautenau nach Arnau an der Elbe. Die Straßen waren sehr bergig.


Samstag, 17. Februar 1945, früh ging es auf zum Teil sehr glatten Straßen und über Berge nach Neupacka. Wir wurden in der Hauptschule zusammengepfercht. Für die Pferde gab es gar kein Unterkommen. Da der Weg aus Neupacka hinaus über einen langen, steilen Berg führte und am Morgen Glätte zu erwarten war, wurden die Wagen am Abend noch über die Höhe hinaufgezogen, um dort, etwa drei Kilometer vom Ort entfernt, über Nacht stehenzubleiben.


18. Februar 1945: Heute ist Sonntag. Ohne einen Schluck Kaffee oder Tee mußten wir schon um 6 Uhr losgehen. Trotz des eisigen Windes mußte auch Bärbel die 3 km bis zu den Wagen laufen. Mit leerem Magen bis Jitschin, wo wir mittags ankamen. Hier fanden wir eine Wehrmachtsküche, die uns für die Kinder Kakao und etwas zu essen gab. Wir mußten weiter nach Welisch, wo wir in der Schule übernachteten. Abendessen gab es keines. Wir konnten uns aber Kaffee kochen. Waschen konnten wir uns im Hof an der Pumpe.

19. Februar 1945: Wir fuhren weiter nach Nieder-Basow. Hier bekamen wir Quartier in der Schule. In einem Raum von ca. 40 bis 45 qm lagen 89 Menschen, groß und klein, jung und alt. Es gab einige Doppelbetten, die anderen schliefen auf dem Fußboden. Durch Frau Gogol bekam ich ein Bett, leider mit Flöhen. Die plagten mich die ganze Nacht, so daß ich kaum zur Ruhe kam. Wir bekamen Brot und Marmelade, für die kleinen Kinder Milch und Brötchen.


20. Februar1945: Bei schönem Wetterfuhren wir am Dienstag nach Weißwasser, wo wir bei Dunkelheit anlangten. Gleich am Eingang des Ortes bekamen wir Essen. Dann ging es einen schrecklichen Berg hoch in das Quartier. Das Stroh, auf dem wir liegen mußten, konnte man schon nicht mehr Stroh nennen, außerdem hatten wir kaum Platz. Mich fanden die Flöhe gleich wieder.


21. Februar 1945: Es geht weiter, endlich aus dem Protektorat hinaus. Wir schliefen in Dauba, zusammengepfercht wie die Heringe. Wir kannten es ja fast nicht mehr anders.

Am 22. Februar 1945 kamen wir nach Ruschowan. Wir fanden bei einem kleinen Bauern ein Quartier. Zwar mußten wir wieder auf Stroh in der Küche liegen, aber es war wenigstens sauberes Stroh. Der Hausherr richtete die Schuhe meines Sohnes. Die Gemeinschaftsverpflegung bestand aus einem guten Abendessen. Am Morgen schenkte die Frau jedem von uns eine kleine Wurst und für unsere Pferdchen ein Bündel Heu.


23. Februar 1945: Heute führt uns unser Weg das Elbetal entlang nach Leitmeritz und über die Elbbrücke am linken Elbufer entlang nach Lobositz. Hier fanden wir bei einem Inspektor-Ehepaar i. R. ein sehr gutes Quartier. Wir konnten in Betten schlafen und bekamen ein gutes Essen, das wir richtig am Tisch und jeder von einem Teller einnehmen konnten. Unser Wagen stand gleich vor, der Tür, wir brauchten nicht weit zu laufen. Nur die Pferde hatten es wieder einmal schlecht. Sie mußten die Nacht über in einem offenen Schuppen stehen.


24. Februar 1945: Planmäßig um 7 Uhr geht es weiter. Das Wetter war sehr unfreundlich, Schneeschauer und rasender Sturm, dazu eine bergige Gegend und aufgeweichte Straßen. Wir mußten nach Weberscham. Dort kamen wir sehr spät an. Wir hatten mehr als 40 km zurückgelegt. Wir konnten uns Essen holen. Es war nicht viel, aber wir hatten uns ja schon an alles gewöhnt.


25. Februar 1945: Heut ist Sonntag. Es geht wie immer weiter. Wir sahen zahlreiche Hopfenfelder. Mir war nicht gut. Vor Rückenschmerzen kann ich mich fast nicht bewegen und saß mal etwas auf dem Wagen. Nur die Berge lief ich hinauf, doch auch das ging bald nicht mehr. Wir fuhren durch Saaz nach Welletitz. Ein Teil des Trecks blieb in Holletitz, andere in Tronitz. Wir fanden ein warmes Zimmer mit zwei Betten. Ein Sohn schlief in einem anderen Zimmer. Zum Abendessen gab es Wurstbrühe mit Semmeln, dann Schweinebraten mit Klößen und Kraut, dazu noch Bier. Wir schiefen gut und bekamen ein gutes Frühstück. Die Frau schenkte uns eine Schachtel Schuhcreme und eine Tasche Birnen für den Weg.


26. Februar1945: Montag früh ging es weiter. Es wa sehr windig. Viele Kinder begleiteten uns aus dem Dorf hinaus. Die Fahrt führte nach Podersam. Hier gab es kleinere Massenquartiere und ein gutes Abendessen.


27. Februar 1945: Früh fuhren wir über Rudik und Trahens zur Leitstelle Lubens. Wir mußten aber noch 18 km weiter bis Nebosedl. Vor Nebosedl war ein langer und steiler Berg. Die Pferde waren so erschöpft, daß sechs Pferde Flacks Wagen nicht hinaufziehen konnten. Mit noch drei Familien bekamen wir in einem kleinen Gasthof ein Quartier und schliefen in einem ungeheizten Zimmer auf Stroh. Da die Pferde vor Erschöpfung fast nicht weiterkonnten, blieben wir drei Tage hier. Frau Sonnek war mit Heiders in Modschiedl im Quartier. Sie blieben hier, als wir weiterfuhren.


Samstag, 3. März 1945, ging unsere Fahrt weiter. Leider hatte es noch einmal geschneit. Das Weiterkommen wurde dadurch erschwert. Ober Stidra gelangten wir nach Theusing. Wir waren zu zwei rührend netten alten Leutchen gekommen. Als ich mit den Kindern ankam, holte der alte Herr gleich für jeden ein Paar Hausschuhe. Wir erhielten warmes Wasser zum Waschen und ein schönes Zimmer. Als wir Sonntag früh aufstanden, war für uns der Frühstückstisch gedeckt. Es gab Kuchen und heiße Milch. Nach einem festen Händedruck ging es am Sonntag früh wieder weiter.


4. März 1945: Der Sonntag war nicht schön, Schneesturm tobte, man konnte kaum vorwärtskommen. Wir sollten heute bis Kuttenplan. Aber wegen des Wetters war es unmöglich. Wir übernachteten in Haberkladau. Unser Wagen kam bei einem kleinen Bauern in die Scheune, die Pferde in den Stall, nur für uns war kein Platz. Nachdem sich die Leute erkundigt hatten, daß die Massenquartiere überfüllt waren, gaben sie uns in der Küche etwas Stroh, und wir konnten uns mit unseren nassen Decken darauflegen. Essen erhielten wir aus der Gemeinschaftsküche.


5. März 1945: Das Wetter wurde nicht besser, aber wir müssen ja weiter. Als Ziel steuerten wir Bruck und Gottschau an. Hier gab es die üblichen Massenquartiere und abends eine Suppe.


6. März 1945: Die Straßen sind spiegelglatt, dazu die schlecht beschlagenen Pferde und die Berge! Wir kamen nach Alt-Zedlisch im Kreis Tachau. Wir bekamen ein nettes Zimmer mitzwei Betten, ein Sohn schlief in der Küche. In der Nacht bekam mein ältester Sohn Ohrenschmerzen. Am nächsten Morgen war es besser. Der Weitermarsch wurde abgeblasen. Wir mußten in ein Gasthaus ins Massenquartier übersiedeln. Da der Saal überbelegt war, gingen wir freiwillig in die Schule. Hier waren wir nur mit Eichhorst, Schindler, Polka und Götz zusammen im Zimmer. Leider fing mein Sohn wieder an, über Ohrenschmerzen zu klagen. Wir gingen zum Arzt. Er verordnete Bettruhe, Umschläge und Wärme, in dieser Zeit für uns unmögliche Dinge. Über dem Elektrokocher wärmte er sein Ohr. Aber das half wenig. Jetzt wurde bekannt, daß wir weitertrecken sollten, weil Dr. Grothe mit dem Bürgermeister nicht ganz einig war. Die Abfahrt war auf Montag, den 19. März, festgesetzt. Da mein Sohn krank war, wäre ich gern in Alt-Zedlisch geblieben. Der "freundliche" Bürgermeister erlaubte es nicht. Wir wußten jetzt, es geht nach dem Kreis Pfarrkirchen, 220 km entfernt.


22. März1945: Bei schönem Wetterfahren wir in Alt-Zedlisch ab. Mein kranker Sohn saß gut verpackt auf unserem Wagen. Wir fuhren 30 km. In Herrschau, 2 km vor Bischofsteinitz, bekommen wir in einer Schule Quartier.


23. März 1945: Heut geht es erst um 18 Uhr weiter bis Taus. Hier werden Wagen und Pferde in die Reithalle gestellt. Wirziehen mit unserem Gepäck in die Stadt. Im Massenlager im Kino fanden wirkeinen Platz und kamen in einen Raum gegenüber. Hierwaren wir nur ungefähr40 Personen. Da die Straßen verstopft waren, mußten wir den 24. März hier bleiben. Mein Sohn lag krank auf dem Stroh.


25. März 1945: Bei schönem Wetter verließen wir um halb sieben Taus. Nachmittags um fünf kamen wir in Tennried an. Heut waren wir nur sechs Wagen. Wir schliefen im Gasthaus auf Stroh.


26. März 1945: Früh um 7 Uhr ging es von Tennried, Kreis Kötzting, weiter. Leider hatte der Weg über Blaibach, Prankenbach nach Viechtach erhebliche Steigungen. So kamen wir erst bei Dunkelheit an. Unser Lager war sehr schlecht. Bärbel fieberte die ganze Nacht. Es gab wieder einmal Kartoffelsuppe.


27. März 1945: Es geht bei schönem Wetter bis Ruhmannsfelden weiter, 16 km. Für Bärbel, die immer noch Fieber hat, bekomme ich ein Bett. Der Treck liegt mit Ohlauern zusammen in der Turnhalle. Mit meinem kranken Sohn gehe ich zum Arzt. Der macht ein bedenkliches Gesicht und schickt mich zur Ohrenärztin nach Deggendorf.

28. März 1945: Wir fahren bis Deggendorf. Bei der Ärztin waren wir durch unser Vorkommando bereits angemeldet. Nach der Untersuchung erklärt sie mir, ich solle den Jungen ins Krankenhaus bringen, sie werde ihn operieren. Das müsse bald geschehen, denn Ostern wolle sie verreisen. Dr. Grothe, Herr Gesuk und Herr Flack raten mir davon ab. Ich soll ihn nur weiter mitnehmen, es wird schon gehen. So ziehen wir weiter.


29. März 1945: Heut fährt der kranke Junge in der Kutsche. Dort ist er geschützter und sitzt besser als auf unserem Bretterwagen.


30. März 1945: Heute ist Karfreitag. Wir sollten bis Aidenbach weiterfahren, doch der Bürgermeister lehnte unsere Aufnahme ab. So machten wir in Egglham Quartier. Wir schliefen im Kindergarten.


31. März 1945: Der letzte Tag unserer langen Fahrt. Es geht erst nach 9.00 Uhr weiter nach Birnbach. Hier werden wir von Dr. Grothe und Frau Schneider empfangen und erfahren, wohin wir kommen sollen. Es ist die Gemeinde Asenham. Mein Sohn muß wieder auf unseren Wagen, da die Kutsche nach Untertattenbach fährt. Hinter dem Bahnhof Birnbach werden wir vom Bürgermeister und dem Schmiedemeister aus Schwalbach empfangen und ins Quartier geschickt. Wir kommen zum Bauern Albert Huber nach Blaichenbach. Hier finden wir zunächst niemanden. Dann erscheint Frau Dr. Souchay, die den kranken Jungen gleich in ihr Bett steckt. (Anm.: Frau Dr. Souchay war evakuiert.) Nun führt uns Fanny, die Schwester des Bauern, in ein leeres Zimmer. Frau Dr. Souchay gibt uns ein Bett, ein Kinderbett und eine Pritsche von sich. Jetzt haben wir wieder ein Zimmer für uns.


1. April 1945, heute ist Ostern. Unser Umherzieheri hat doch noch ein Ende gefunden.


1) Auszug aus einer Zusammenstellung von Hans-Dieter Koschny. Der vollständige Bericht ist abgedruckt im Simbacher Anzeiger vom 15. April 1985, Nr.8/85ff.