Über unserer Stadt läutet sonnabends
zur Vesper und sonntags zu den Gottesdiensten eine Glocke, die mit ihrem hohen
Cis und dem schönen erzenen Klang wohl zu vernehmen ist, wenn man darauf aus ist,
sie zu hören. Aber es sind jetzt nicht mehr viele, die, wenn der Sonntag eingeläutet
wird, den Kopf heben oder gar das Fenster öffnen oder, wenn der Weg von ihrer
Arbeit sie nach Hause führt, stehen bleiben, um zu lauschen und zu sagen: Ja,
das ist sie. Und in dem Getön der Sonntagsglocken, die von den drei Kirchtürmen
ineinander klingen, geht ihre Stimme fast verloren. Aber sie ist da sehr hoch,
sehr leicht, sehr schwingend, die Glocke der Liebe. Sie hängt noch nicht lange
da oben. Am ersten Advent des letzten Jahres wurde sie erst dort oben angebracht. Damals
war es ein Fest, das fast alle, die in unserer Stadt noch ein warmes Herz bewahrt hatten,
oder eine Frömmigkeit, oder ein Heimweh, eine verborgene Traurigkeit und Liebe,
ein überwundenes oder auch nicht überwundenes Schicksal, in der Kirche zusammenführte,
in deren Turm sie an diesem Tag zum ersten mal läuten sollte. Zum ersten mal?
Zum vieltausendstenmal denn die Glocke ist sehr alt.
Viele von denen, die gekommen waren, hatte ihr Heimweh
in die Kirche getrieben, denn früher hatte die Glocke über dem Land Schlesien
geläutet, und wenn sie diese eine auch noch nie gehört hatten, so war es
doch eine Glocke von zuhause. Zuhause, das war ja nicht nur der eine Fleck auf Erden,
um den ihre sehnsuchtsvollen Gedanken kreisten. Zuhause, das war und ist der Ort, an
dem die Liebe wohnt. Aber viele waren auch nur gekommen, um die beiden Menschen zu
ehren, für die es wirklich die Glocke von zuhause war: den alten Herrn, der seit
sieben Jahren in unserer Stadt wohnt, der mit seinem grünen Jägerhabit und
mit seiner aufrechten alten Gestalt aus unseren Straßen nicht mehr fortzudenken
ist, ihn, dessen klares und strenges Gesicht alles verschweigt, was nach Klage aussehen
könnte, und alles ausdrückt, was sein schweres Schicksal ihn an Überwindung,
Freiheit und Güte gelehrt hat. In seinem früheren Leben mag er ein Grandseigneur
gewesen sein, ein Herr über seine Güter, ein Patron seiner Kirche, der, dem
die Glocke gehörte wie seinen Vätern und Vorvätern. Jetzt ist er nur
noch ein Mensch. Es ist schwer, in dieser Zeit ein Mensch zu sein, ohne Reichtum und
Stellung, ohne Macht und Stimme, ganz ohne Gabe und Geltung, so wie sie ihm früher
zur Verfügung gestanden hatten: Und doch fühlt auch der Einfachste sich geehrt
und beschenkt, der ihm begegnet, so wie ich mich geehrt und beschenkt fühlte,
als ich an diesem Tag neben ihm und seiner Tochter inmitten der Gemeinde sitzen durfte,
die gekommen war, die Einweihung seiner Glocke zu feiern und sie zum erstenmal
zum vieltausendsten-mal läuten zu hören.
Seine Tochter ist jenes Gutsfräulein, das im gefährlich
feindlichen Land auf jene menschlichste Art Weihnachten gefeiert hat, als ringsum die
Welt ohne Liebe zu sein schien. Obwohl auch sie nicht einen Pfennig ihr eigen nennt,
ist es der Kraft ihres liebevollen Herzens gelungen, die Glocke ihrer Heimat, die verschollen
war, zu suchen, zu finden und hierherzubringen.
So geschah es: Man hatte sie eingeladen, sich einen der
neuen Filme anzusehen, die versuchen, das verworrene Bild der Gegenwart einzufangen,
zu durchleuchten, zu deuten, das Schicksal der Menschen von heute, und also auch das
ihre. Der Film war, wie es nicht anders sein kann, gelungen und nicht gelungen, er
war so wahr, wie der unverstandene Tag wahr ist, der heute und immer an unseren Augen
vorüber gleitet und dem wir ausgeliefert sind. Aber plötzlich, während
sie noch im Innern unberührt und nur mit ihrem wachen Interesse dem Spiel zusah,
begann ihr Herz zu schlagen. Es hatte viel eher begriffen als sie selber, daß
von dem? was eben an ihrem Auge vorüberglitt, ein Anruf an sie ganz allein ergangen
war ihre Liebe brannte schon, ehe sie noch selber wußte, was sie da eben
gesehen hatte: Glocken waren das, große und kleine, eine unübersehbare Zahl,
die dicht bei dicht auf einem leeren Platz an einem Fluß vor dem düsteren
Hintergrund von Ruinen zusammengestellt waren, von Stacheldraht umzäunt und von
Verbotstafeln gesichert
Glocken, die nicht mehr, wie es doch ihre Bestimmung
war, im hohen Gebälk der Türme ihr tönendes, jahrhundertealtes Leben
verbrachten, sondern die stumm sein mußten, verschollen, tot. Diese Glocken alle
hatten ihre ihnen angestammte Heimat verlassen, waren, von der Hand des allmächtigen
Krieges gepackt, in die Zerstreuung gewandert, und zuletzt, da der Krieg zu Ende ging,
ehe er auch sie in seinem gierigen Maul zerschmolzen hatte, hier zusammengeschleppt
worden, wie Gerümpel, alte Autos, Schrott oder Menschen, wie so vieles, was in
den letzten Jahren Sinn und Sein verloren hatte. Das Fräulein sah nicht mehr,
was sonst noch in dem Film geschah. Sie hatte einen Auftrag empfangen, den sie in den
nächsten Monaten mit sich herumtrug, immer auf der Suche, wie sie ihn erfüllen
konnte. Sie kannte keine dieser Glocken, die auf diesem riesigen Friedhof verkamen
und doch ; auch ihr Vater und sie hatten eine Glocke fortgeben müssen,
als sie noch auf ihrem großen Gut in Schlesien saßen, die Glocke der kleinen
Holzkirche, die seit Jahrhunderten über dem Schicksal des Hofes und des Hauses,
ja des ganzen Landes geläutet hatte. Obwohl sie damals versucht hatten, die Glocke
vor dem Zugriff des Staates zu retten, der im Krieg nicht Glocken, sondern Kanonen
brauchte und ihr kostbares Erz würde laut genug brüllen, wenn es den
Tod und nicht die Liebe verkündete , war es ihnen nicht gelungen. So alt,
so selten, so kostbar und so schön sie war, sie mußten sie eines Tages von
ihrem Gestühl herunterholen, auf den großen Milchwagen laden und sie, mit
einem Tannenkranz umwunden, den Weg in den Krieg antreten lassen, den sie nur bis zum
Güterbahnhof verfolgen konnten, wo der Soldat bereit stand, der sie mit einer
Ehrenbezeigung von dem Fräulein entgegennahm. Sie war die erste, die den Hof verlassen
mußte; bald folgten die andern, die Hofleute, die Knechte und Mägde, der
Herr und das Fräulein. Das Schloß und die Kirche verbrannten, das Land,
über dem die Glocke in Glück und Not geläutet hatte, war ein verlorenes
Land. Das Fräulein saß, vom Bild des Glockenfriedhofs und von Heimweh erfüllt,
an den Abenden über den Bildern ihrer Heimat, sie hatte die Glocke damals, als
sie von ihr Abschied nahmen, in vielen schönen Bildern aufgenommen, die sie nun
vor sich hinbreitete. Als ob sie wieder, wie damals, mit ihren Fingern das glatte,
kühle Glockenerz abtastete, fühlte sie ihre edle Form nach, die große
Wölbung, die sich zum Gesang öffnete und die nun verstummt war, die barocken
Bogen des Bügels, in denen das Schwingen von Jahrhunderten saß; die kostbare
Renaissancekante, mit der der Glockengießer ihren Saum geschmückt hatte,
und Buchstaben um Buchstaben und Wort für Wort den lateinischen Spruch, der ihr
den Sinn gegeben hatte: Sit nomen Domini.benedictum ex hoc nunc et usque in Saecula
Saeculorum Der Name des Herrn sei gelobt von nun an bis in Ewigkeit. Darunter
stand die Zahl 1519 und der Name des Meisters: Sigmund Goetz. Zuletzt ruhte ihre Hand
in der kleinen Wunde, die die Glocke an ihrem äußersten Rand davongetragen
hatte, als ungeübte Hände sie von ihrem Turm herablassen mußten. Das
Bruchstück hatte sie damals verwahrt, aber mit allem andern war es verlorengegangen;
es galt nicht mehr als der Splitter einer Bombe oder eines zersprengten Geschosses,
das in die Erde getreten war. Dem Fräulein war es klar, daß, was sie wollte,
schwer zu erreichen sein würde. Es kann nicht gelingen, sagte ihr
Vater, dessen Herz nicht mehr so heftig schlug wie das ihre. Es muß gelingen,
sagte sie. Und es gelang. Die Filmgesellschaft verriet ihr, wo sich der Begräbnisplatz
der verschollenen Glocken befand; Menschen fanden sich bereit, ihre Pflichten für
die Zeit zu übernehmen, die sie fort sein mußte, und Freunde, deren sie
viele hatte, luden sie Stück um Stück den Weg entlang ein, der kurz ist für
jemand, der die großen Züge benutzen kann, die uns von heute auf morgen
hintragen, wohin wir nur wollen, aber weit für jemand, der kaum seine täglichen
Sorgen bestehen kann.
Jedenfalls fand sie sich an einem Regenmorgen vor jenem
Stacheldrahtzaun mit seinen Verbotsschildern im Freihafen der großen Stadt und
sah die Glocken. Es waren auch jetzt noch unübersehbar viele, kleine und große,
ja riesige Glocken, die einen Menschen weit überragten. Sie standen dicht beisammen,
so daß sich Saum um Saum fast berührte, dazwischen waren Wege und Straßen,
Nummern und Schilder, wie auf einem Friedhof. Sie stand hinter dem Stacheldrahtzaun
und zweifelte nun selber, ob unter den vielen Glocken auch die ihre sei, und wenn,
ob es ihr wohl je gelingen könnte, sie herauszufinden. Hundertundzehntausend Glocken
waren auf diesem Platz einmal beisammengewesen. Sie mußte sich nur das Geläut
all dieser Glocken ineinander vorstellen und ihr Herz und ihre Phantasie waren
groß genug, dies zu versuchen , so zitterte sie wie die Erde bei einem
Erdbeben oder wie Engel zittern mögen, wenn die himmlischen Chöre ertönen.
Aber von diesen hundertundzehntausend Glocken waren neunzigtausend zu Kanonen umgegossen,
und das Entsetzen, das sie packte, wenn sie an ihre veränderten Stimmen und an
das Gebrüll von Haß und Tod dachte, das sie über die Welt ausgespien
hatten, war unerträglich für sie, die den Krieg so nahe und wirklich miterlebt
hatte. Himmel und Hölle und der große Streit ihrer Stimmen umdröhnten
sie. Wenn sie die Augen schloß, so daß sie die im Regen glänzenden
Leiber der Glocken nicht mehr sah, jagten in wirren, sich überdeckenden Bildern
die vergangenen Jahrhunderte vorüber, über denen diese Glocken geläutet
hatten, die Kriege und die Landschaften des Friedens, die sie ablösten, die Erntefeste
und Hungersnöte, die aufwachsenden und zusammenstürzenden Städte, die
festen Mauern und Türme, die nicht mehr waren, Jubelfeste und Begräbnisse,,
Tänze und Tod. Und sie sah die Menschen selber, die einmal diesen Glocken gelauscht
hatten und die längst von ihnen zu Grabe geläutet waren, die Heiligen und
die Verdammten, die Frommen und die Zweifler, die glücklichen Bürger reicher,
ewig gleichbleibender Jahrzehnte und die andern, die im Wirbel des Untergangs gelebt
hatten. Sie sah, als knieten sie alle zugleich unter dem Glockengeläut, die unzähligen
Bräute, die ihr Leben unter den Glocken begonnen hatten, die Kinder, die sie geboren,
und die alten Frauen, die sie gleich darauf selber geworden waren, die Heere der jungen
Soldaten, die in der Uniform aller Zeiten von den Glocken hinausgeleitet worden waren,
um im fremden Feld zu sterben, und die stillgewordenen Gesichter der Alten, die erkannt
hatten, daß tausend Jahre wie ein Tag sind und wie eine Nachtwache und daß
nur bleibt, was die Glocken läuten: Sit nomen Domini benedictum ex hoc nunc
et usque in
SaeculaSaeculorum.
In dem Brausen der Bilder und Glocken, die das Fräulein
umrauschten, klang tröstlich diese eine Stimme mit, die Stimme ihrer eigenen Glocke,
das hohe Cis, das seit ihrer Kindheit über ihr und in ihr gewesen war. Die Bilder
wandelten sich, nun zog sie selber mit den Millionen auf den Fluchtstraßen durch
Eis und Schnee und wenn sie ihn auch tage- und wochenlang vergaß, so war
doch dieser Trost in ihr: Sie wanderte gleichsam der Glocke nach, die vor ihr den Weg
ins Nichts angetreten hatte, vor ihr hinter diesem Stacheldrahtzaun angekommen war,
vor dem sie stand, von Gesichten und Klängen zerrissen, dennoch beruhigt in der
Gewißheit, am Ziel zu sein. Es war das Ziel, die nächsten Tage erwiesen
es. Wie sie es fertiggebracht hatte, den Stacheldrahtzaun der Bürokratie, der
gestrengen und getreuen Beamten dieser und jener Zunge zu überwinden, bleibt.
ihr Geheimnis sie lacht, wenn sie davon spricht, und es wird dies Lachen und
zugleich die Inbrunst ihres Willens gewesen sein, mit denen sie Menschen, die sonst
nur nach Zahl und Listen lebten, überzeugte, daß es nichts Wichtigeres gab,
als ihr zu helfen. Es erwies sich, daß man beschlossen hatte, den Rest der Glocken
zu retten, sie nach ihrem Alter und ihrer künstlerischen Bedeutung und, soweit
sich das feststellen ließ, auch nach ihren Heimatorten zu ordnen. Und so wurde
dem Fräulein das Suchen erleichtert, weil ihre Glocke zu den ältesten gehörte
und also unter einer Gruppe ähnlich alter und ähnlich schöner Glocken
zu suchen war.
Das Stacheldrahttor öffnete sich vor ihr und schloß sich wieder hinter ihr,
sie war allein, allein zwischen den Glocken. Einige überragten sie weit, während
sie durch die engen Straßen schritt, andere reichten ihr bis zur Schulter, bis
zu den Hüften oder unter die ausgestreckten Hände. Sie glänzten naß
im Rieselregen, an den Bügeln hingen die Tropfen wie Perlen oder Tränen,
und auch das Gesicht des Fräuleins war naß, das Glück brach aus ihren
Augen, denn dort hinten stand eine Gruppe Glocken beieinander, hoch wie siebenjährige
Kinder, mit ihren grünbraunen, regenblanken Umhängen und den barocken Hauben
einander ähnlich wie Geschwister. So hatte ihre Glocke ausgesehen, sie erkannte
sie sofort. Sie kniete schon bei ihnen, wischte den verkrusteten Staub aus den Buchstaben,
dem der Regen nichts anhaben konnte, und las und suchte. 1522 1527 - 1539 -und
immer den Namen: Sigmund Goetz Sigmund Goetz Sigmund Goetz.
Dann sah sie die Wunde, die kleine Bruchstelle am Rand
der Glocke, sie bückte sich und legte ihren Finger hinein sie brauchte
die Inschrift nicht zu lesen: Sigmund Goetz 1519 Sit nomen Domini benedictum
ex hoc nunc et usque in Saecula Saecu-lorum.
Wir müssen sie allein lassen mit ihrer Glocke; was
nun geschah, geht sie allein etwas an. Inmitten des Glockenfriedhofs war sie heimgekehrt,
hatte sie die Bestätigung ihrer Liebe, ihres Glaubens und ihres Vertrauens gefunden.
Die Glocke war wirklich und unwirklich zugleich, eine Realität und ein Zeichen,
das Fräulein nahm sie an diesem Tag, der einer aus der vorüberfließenden
Ewigkeit war, als solches an. Sie selbst stand zwischen all den Glocken mitten in der
Ewigkeit und hatte doch ihre Heimat wiedergefunden,
Sie finden und zurückgewinnen war zweierlei, erzählte
später das Fräulein, es gibt Beamte des Staates und Beamte des lieben Gottes,
und beide sind gestrenge Herrn. Aber es gelang, und in unserer Stadt wurde die Leihgabe
dieser Glocke, die neben zwei fremden und viel jüngeren Schwestern ins Gestühl
der Hauptkirche gehängt werden sollte, mit Freuden angenommen, denn der darüber
zu sagen hatte, verstand, welches Zeichen ihm und seiner Gemeinde damit gegeben war.
Usque in Saecula Saeculorum! ruft die Glocke und bettet das unverständlich
schwere gegenwärtige Schicksal in das Sinnvolle aller Zeiten. Ich sagte schon,
welch großes Fest es war, als die Glocke geweiht wurde, ein Fest der Flüchtlinge,
aber auch der Einheimischen, denn längst ist der alte Herr, der Patron seiner
Glocke, der Stadt eingewachsen, und das Fräulein ist hier zuhause. Auch die Glocke
ist es, so sehr, daß man sie fast vergißt. Sie ruft über unserer Wochenvesper
und unsern Sonntagen, und für den, der darauf achtet, tut sie immer noch einen
Schlag nach, wenn ihre großen und lauteren Schwestern schon stumm geworden sind.
Das macht der Kirchendiener, der von solchen Dingen etwas weiß: Er läßt
die Glocke ihr besonderes Wort sagen, für den Herrn, der etwa nicht zur Kirche
kommen konnte, weil er alt ist, für das Fräulein, das Sonnabendabends im
Fenster lehnt und darauf wartet, für uns alle, die wir es nötig haben, solches
zu hören. Der Kirchendiener tut es, weil er mehr versteht als andere, und vielleicht
auch wegen der Flasche Wein, die das Fräulein ihm geschenkt hat, als Neujahr war.
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