Namslauer Heimatruf, Nr. 140, März 1994

M E I N  G R A M B S C H Ü T Z von Heinz-Dieter Koschny

Vor mir Liegt ein Bild. Die Frau eines ehemaligen Schulkameraden schickte es. Sie steht mit mei-nem Schulfreund vor einem Ortsschild mit der Aufschrift "Greboszow". Ich lese nicht "Greboszow" sondern "Grambschütz". Mein Grambschütz! Erinnerungen werden wach beim Betrachten dieses Bildes, eine ganze Welt wird lebendig, die Welt meiner Kinderzeit.
Wenn wir den Begriff Heimat ganz eng fassen,dann ist es dieses kleine Stückchen Erde von Horizont zu Horizont, in dem wir die prägenden Jahre unserer Kinderzeit verbracht haben: ein kleines Dorf, ein Stadtteil, der Straßenzug einer Großstadt. Sie formen den Menschen und lassen ihn nie mehr los, im Positiven wie im Negativen. Entweder man trägt dieses Bild der Heimat ein Leben lang im Herzen oder man versucht ein Leben lang, sich von ihm loszumachen. Wohl dem, der eine glückliche Kinderheimat hatte!
Grambschütz, ein Dorf mit sechshundert Einwohnern, im Kreis Namslau gelegen, 68 km östlich
von Breslau, für ein Kind gerade noch überschaubar und erfahrbar. Vertraut sind die Wege zum Kaufmann, zur Post, zum Bahnhof und zur Schule in der Mitte des Ortes oder zur Waldschule am Ortsende. Den Pilzberg gab es, auf dem man Schlitten fahren konnte, und Waldteiche, aber keinen richtigen FLuß oder Bach. Gern spielten wir auf dem Mühlberg, einem Hügelchen, auf dem einmal eine Windmühle gestanden haben mag.
Schon das Kind war eingebunden in das Landleben. Man durfte während der Herbstferien Kühe hüten, ja sogar einmal mit dem Ochsen eines bekannten Bauern fahren. Das höchste Glück für einen Zehnjährigen war das Lenken eines Pferdegespanns - wenn auch unter Aufsicht. Unvergessen ist das Kartoffelklauben, besonders wenn die Bauersfrau riesig dicke Vesperschnitten aus dem Korb packte.
Spiele erfüllen das Leben der Jungen. Alles Land, soweit das Auge reichte, gehörte ihnen. Sie konnten herumtollen, in Wäldern und Sandgruben immer wieder Neues entdecken und - verbotenerweise - hier und dort einmal ernten, was sie nicht gesät hatten.
Man kümmerte sich wenig um die Geschichte des Ortes, wenn man sich auch über die alte, unter Bäumen und Sträuchern versteckte Schrotholzkirche wunderte, und wenn Lehrer Schreiber im Unterricht manchmal eine Sage erzählte. Dabei wird Grambschütz sogar in dem "Handbuch der historischen Stätten - Schlesien", herausgegeben von Dr. Hugo Weczerka, erwähnt. 1305 taucht sein Name erstmals in der Geschichte auf. Grambossow hieß es damals. In dem Handbuch wird es als Angerdorf beschrieben. Doch es war wohl zur Zeit der Gründung ein Straßendorf, das später erweitert wurde.
Dann wäre es wohl im Zuge der deutschen Besiedlung Schlesiens entstanden. Dafür spricht noch ein zweites Indiz: Hinter Grambschütz liegt das Vorwerk Altgrambschütz. Wenn in Schlesien derselbe Ortsname mit der Vorsilbe "Alt-" auftaucht wurde der neue deutsche Ort neben einer alten slawischen Siedlung "aus wilder Wurzel" - also völlig neu - gegründet.
Runde zwanzig Siedler mögen es anfangs gewesen sein, die sich in einer Dorfgemeinschaft zusammenfanden. Am Anfang des Ortes Lag das Gasthaus, am Ende der Gutshof, ihm gegenüber die Kirche. Einen eigentlichen Mittelpunkt gab es nicht. Er entstand erst viel später, als neben dem Dorfteich die Schule gebaut wurde, und man dort auch ein Kriegerdenkmal errichtete.
Das Dorf lag ursprünglich südlich der Straße von Namslau nach Kreuzburg. Es wuchs, als zu beiden Seiten dieser "Reichsstraße" Anwesen erstanden. Der Mühlenweg bildete eine Abkürzung zur Reichsstraße hin nach Namslau, später auch zum Bahnhof. Dieser Bahnhof an der Strecke Breslau - Öls - Namslau - Kreuzburg bedeutete sicher eine erhebliche Aufwertung des Dorfes.
Was wäre ein schlesisches Dorf ohne Herrensitz! Selbstverständlich gab es auch einen in Grambschütz. In der Mitte des 16. Jahrhunderts gehörte er einem Herren Kottulinsky. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam er durch Heirat an die Herren von Prittwitz und Gaffron. 1789 starb Hans Moritz von Prittwitz und Gaffron ohne männlichen Erben. Seine Tochter heiratete den Grafen Gustav Adolf Adolf Henckel von Donnersmarck. Der letzte Besitzer war Dr. Georg Graf Henckel von Donnersmarck, der sich nach der Vertreibung als Abgeordneter des deutschen Bundestages in besonderer Weise für die Belange der Vertriebenen einsetzte. Sein Sohn Peter lebt in Ingolstadt.
Im schönen großen Schloßpark lag das Schloß. Einer Wappentafel nach wurde es 1782 von Hans Moritz von Prittwitz erbaut, ein zweigeschossiger Bau mit einem dreigeschossigen Mittelrisalit.1903/04 fand ein Um- und Ausbau statt, der ihm das Aussehen gab, das wir kannten.
Riesig war der Gutshof. Die Wirtschaftsgebäude überragten das Haus der Gutsverwaltung, ein Jugendstilbau. Ein Dominium, wie wir das Gut nannten, war ja mehr als ein großer Bauernhof. Zum Grambschützer Dominium gehörten Handwerksbetriebe wie eine Schmiede, eine Stellmacherei, eine
Schlosserei, die von Handwerksmeistern geleitet wurden. Ein selbständiges Unternehmen war die
Brennerei, deren Leiter zuletzt Herr Sonnek war. Die Gärtnerei belieferte das ganzs Dorf mit Gemüse. Zum Dominium gehörten auch Wohnungen und Häuser für die Angestellten und Arbeiter. Das Inspektorenhaus beeindruckt heute noch durch seine gelungene Architektur. Uns Kinder begeisterten damals die prächtigen Reit- und Kutschpferde und die possierlichen Ponys des Gutes.
Im alten Teil des Friedhofes stand die fast baufällige Schrotholzkirche. Sie dürfte 1613, also
kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, gebaut worden sein. Das Datum wird in einem Visitationsbericht genannt und steht auch auf der ältesten Glocke. Bauherr war wohl der evangelische Gutsbesitzer Freiherr Cyprian von Kottulinsky. Man hat sie mehrmals renoviert, zuletzt noch 1886 unter Lazarus Graf Henckel von Donnersmarck. Nach dem Bau der neuen Kirche diente sie als Begräbniskapelle. Im Jahr 1654 wurde sie im Zuge der Gegenreformation katholisch. 1897/99 entstand die neue Kirche St. Katharina als Filiale von Strehlitz. Das Patronat hatte die Gutsherrschaft Grambschütz. Erbauer war Johannes Edgar Graf Henckel v. Donnersmarck, der Vater des letzten Besitzers. Zwei englische Architekten, Bagally und Millard, hatten sie im Stile der englischen Neuromantik entworfen. Ihre heutige Form erhielt sie 1936/37, als sie renoviert wurde, und man allen Zierrat wegschlug. Die Ausmalung des Inneren stammt von Prof. Meyer-Speer. Die Kirche wirkt mit dem kurzen Längsschiff, den beiden Querschiffen und dem massigen Turm äußerst gedrungen.
Sie beherbergt einen einst wunderschönen gotischen Flügelaltar, der aus der Schrotholzkirche stammt, aber auch älter als diese ist. Im Schrein stehen vor damasziertem Hintergrund die Figuren Marias, Margaretas und Barbaras. Die Schnitzfiguren auf den Flügelinnenseiten stellten links Petrus, Johannes, einen heiligen Bischof und Matthias dar, rechts einen Heiligen mit Schwert und zwei weitere 1935 ergänzte Figuren. Leider wurden die Figuren auf den Flügeln 1985 gestohlen (bald darauf der Rest). So wirkt der beschädigte Altar wie ein Symbol für das ganze heutige Grambschütz.
Im Friedhof fällt unter den Grabmälern verschiedener Grafen und ihrer Gattinnen ein gußeiserner Vierkantblock mit einer vasenförmigen Urne auf, der für den 1813 vor Glogau gefallenen Grafen Gustav Adolf Henckel v. Donnersmarck errichtet wurde. Der Friedhof machte übrigens 1992 einen recht gepflegten Eindruck.
Wenn man heute von Namslau her über Giesdorf nach Grambschütz fährt, hat man zunächst den Eindruck, es hätte sich nur wenig verändert. Der Bahnübergang, der Bahnhof, der Mühlweg mit den Häusern von Wilde, Krompos und Kirchner, die Lindenallee entlang der Dorfstraße, die Kirche, das ist alles noch wie früher. Auch der Dorfteich verstärkt den Eindruck, obwohl er fast ausgetrocknet ist. Dann aber erkennt man die Veränderungen. Das Gasthaus, die meisten Häuser an der Reichsstraße und viele Bauernhöfe im Dorf selbst wurden abgerissen. Hin und wieder erinnern die alten Zäune noch an die Anwesen. Das Schloß brannte 1945 ab, nicht einmal mehr Ruinen blieben stehen. Der romantische Schloßpark ist verwildert und leidet unter Industrieabgasen. Die Schrotholzkirche steht heute im Freilichtmuseum in Oppeln und bildet dort einen besonderen Anziehungspunkt.
Teilweise wurden die Grundstücke neu parzelliert und bebaut. Dadurch ergaben sich erhebliche Veränderungen in der Struktur des Dorfes. Vor allem aber fällt auf, daß die Dorfstraße buchstäblich im Wald endet. Die Wege hintenherum nach Namslau, nach Attgrambschütz, nach Steinersdorf und nach Salesche sind kaum zu befahren. Grambschütz wurde gegenüber Strehlitz, Noldau und sogar Reichen abgewertet.
Beim Betrachten des Ortsplanes, den Alois Nickel 1979 zeichnete, werden die Namen der Grambschützer wieder lebendig: Filor, Flack, Prokot, Henschel, Heider, Janietz, Stefan, Malcher, Scholz, die Namen Stannek und Nawroth sogar mehrmals, Golpon, Hanusa und viele andere. Unvergessen ist Dr. Grothe, der den Grambschützer Treck bis nach Niederbayern führte, wo seine Reste in den heutigen Landkreisen Passau und Rottal-Inn ein Unterkommen fanden. Hier wohnen jetzt noch Grambschützer, ich gehöre zu ihnen.
Der Weg, zu dem der Treck damals ein Vierteljahr brauchte, ist heute mit dem Auto bequem in zwölf Stunden zu bewältigen. Dann ist man in dem Dörfchen, das den Grambschützern einmal Heimat war, zu dem sie auch jetzt -nach fast fünfzig Jahren- noch eine starke gefühlsmäßige Bindung haben, obwohl sich so viel in ihrem Leben geändert hat. Kaum einer wird nach Schlesien fahren, ohne das Heimatdorf aufzusuchen, und sei es auch nur für einen kurzen Spaziergang die Dorfstraße entlang bis zur Kirche. Dann kann er erleben, was das Wort Heimat in seinem tiefsten Sinn bedeutet.