Seit Weihnachten 1944 gingen im Dorf die Gerüchte über die negative Entwicklung
der Ostfront um. Offen traute sich kaum jemand darüber zu sprechen, aber westwärts
ziehende Pferdewagen von bereits umgesiedelten "Bessarabien-Deutschen" aus
dem Warthegau, beunruhigten die Bevölkerung erheblich. Besonders schlimm war die
selbstverordnete Hinhaltetaktik der Partei, die alle nachgeordneten Organe, bis hin
zu den Ortsgruppenleitern und Bürgermeistern im Unklaren ließ, wann, wie
und ob überhaupt geflüchtet werden durfte. Hauptgründe waren die Vermeidung
von Panik, die evtl. negative Beeinflussung der kämpfenden Truppen und vor allem
die Gerüchte über den bevorstehenden Entlastungs-Einsatz von sogenannten
"Wunderwaffen".
Am 19-01-1945 gegen Mittag kam endlich von der Kreisleitung in Namslau der gefürchtete,
aber erwartete Anruf, mit der Aufforderung alle verfügbaren Pferdewagen mit dem
Notwendigsten zu beladen und dafür zu sorgen, dass alle Dorfbewohner, die keinen
eigenen Wagen hatten, mit darauf verteilt wurden. Ein erhebliches Problem bestand darin,
dass es nicht genügend Kutscher gab. Auf den meisten Höfen waren die Männer
im Krieg und die polnischen Knechte weigerten sich mit dem Treck mitzufahren. So musste
mein Vater, obwohl er von Pferdewagen keine Ahnung hatte unseren Wagen übernehmen,
während meine Mutter ihren DKW- Cabrio mitnehmen wollte.
Bei einer Außentemperatur von - 15 ° C und bei einsetzender Dunkelheit sammelte
sich der Treck auf der Dorfstraße in Richtung Simmelwitz. Die Treckroute stand
inzwischen auch fest, denn sie war schon lange vorher so ausgearbeitet worden, dass
die Trecks weder sich selbst noch die kämpfenden Truppen oder den Nachschub behindern
sollten.
Die Bevölkerung der Stadt Namslau und der Dörfer des gesamten Kreises, sollten
bis zum Zielkreis Landeshut fahren und dort die weitere Entwicklung der Ereignisse
abwarten.
Mein Großvater hatte zusammen mit seinem polnischen Knecht, Herrn Wrobel, unseren
Wagen mit den beiden rabenschwarzen Steppenpferden (Hans und Lotte) fertig gemacht
und mit den Sachen beladen, die mein Vater, meine Mutter und Emma Laske unsere Haushaltshilfe,
die mit uns fahren wollte, bereitgestellt hatten. Dazu gehörte Verpflegung für
mindestens1 Woche, warme Winterkleidung und Bettzeug.
In der Annahme, dass wir in kurzer Zeit wieder zurück sein würden, weigerte
sich mein Großvater mitzukommen. Er sagte bei dieser Kälte kriege ihn niemand
nachts auf die Straße. Ich bleibe mit Wrobel hier. Ausserdem kann ich gut Polnisch
und leidlich russisch sprechen, uns wird schon nichts passieren, ich kenne die Russen
von 1918. Es muss doch auch jemand das Vieh versorgen und auf das Haus aufpassen. Uns
hinterherwinkend sahen wir ihn zum letzten Mal , danach war er - bis heute - verschollen.
Mit dem Treck ging es nur langsam voran, erst spät nach Mitternacht erreichten
wir das Dorf Bischwitz, welches schon geräumt war, sodass wir direkt in den noch
warmen Häusern übernachten konnten.
In Tagesabschnitten von jeweils ca. 20 km , über Ohlau, Schweidnitz, Alt-Reichenau,
erreichten wir am 1.02.1945 Reußendorf im Kreis Landeshut , wo wir bis zum 11.02.1945
blieben. Es stellte sich bald heraus, dass die mitgebrachten Vorräte ausgingen
und auch im Kreis Landeshut knapp wurden. Daraufhin wurden alle Treckwagen ganz entladen
und fuhren zurück bis nach Schweidnitz, um dort eingelagerte Lebensmittel, wie
Butter, Mehl, Zucker und Kartoffeln etc. zu holen. Bei dieser Aktion verschwand leider
die Kiste mit den Lankauer Bürgermeister-Akten, in der sich auch die handgeschriebene
Chronik des Dorfes Lankau befunden hatte.
Bedauerlich, weil viele darin enthaltenen Daten und Fakten sich nicht mehr rekonstruieren
lassen.
Da die Wunderwaffen ausgeblieben waren, änderte sich auch das Kriegsglück
der Deutschen nicht. Die russischen Truppen kamen näher und wir mussten weiterziehen.
Bei vereisten, glatten Strassen bekamen unsere Treckwagen, die in der Ebene keine Bremsen
brauchten zunehmend Schwierigkeiten. Der DKW meiner Mutter war in Schweidnitz vom Militär
beschlagnahmt worden, meine Mutter übernahm deswegen die Pferde und mein Vater
konnte sich mehr um seinen Posten als Treckführer kümmern. Dies war notwendig,
weil die Dörfer im Sudetengau nicht immer bereit waren durchreisende Flüchtlinge
unentgeltlich aufzunehmen., zu versorgen und die Pferde zu füttern.
Am 12.02.1945 ging es weiter, der neue Zielkreis der Namslauer war der Kreis Luditz
im Bereich Marienbad, Karlsbad. Nördlich an Prag vorbei, hatten wir einige Begegnungen
mit seltsamen Kolonnen in gestreiften Kleidern, die unter Bewachung auf Nebenstrassen
marschierten, ausgehungert und krank aussahen. Wie Botschaften aus einer anderen Welt
regnete es manchmal Silberstreifen oder Flugblätter, die man aber nicht lesen
oder behalten durfte. Am 7.03.1945 erreichten wir unseren neuen Zielpunkt ein kleines
Dorf in der Nähe von Chiesch. Der Treck wurde hier auf mehrere Dörfer verteilt,
die Menschen nicht in privaten Häusern, sondern in den örtlichen Volksschulen
untergebracht. Die überwiegend tschechische Bevölkerung sprach fließend
Deutsch, war freundlich und strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Am Himmel tauchten,
jetzt überraschend, immer wieder Tiefflieger auf, meist doppelrümpfige Lightnings,
die auf der Strasse fahrende Fahrzeuge, aber auch Menschengruppen und Einzelpersonen
mit Bordwaffen angriffen. So wurde der Sohn des deutschen Bürgermeisters auf dem
Rückweg von der Schule in der Kreisstadt, im Straßengraben erschossen. Auch
wir hatten ein ähnliches Erlebnis, als wir nördlich vom Dorf bei warmem Frühlingswetter
und blauem Himmel auf einer großen Wiese spielten, überflogen 2 Lightnings
das Dorf. Sie sahen auf der Wiese unsere Gruppe von ca zehn 8-12 jährigen Kindern,
zogen eine Schleife, kamen zurück, einer ging tiefer und fing plötzlich an
zu feuern. Wir warfen uns auf den Boden, es wurde niemand verletzt und wir rannten
in den nahen Wald.
Mit dem Dorf verbinde ich aber noch eine andere böse Erfahrung . Zwei Tage nach
dem Lightning -Zwischenfall hieß es im Dorf die Amis sind da und die Russen kommen
von der anderen Seite. Da fingen die Tschechen an zu feiern und zu saufen, auf einmal
hatte jeder eine Binde am Oberarm, manche hatten Stahlhelme aber jeder hatte eine Flinte
oder Pistole. Auf dem Dorfplatz rotteten sie sich zusammen und dann holten sie unter
lautem Schreien den Bürgermeister und den Ortsbauernführer und schlugen sie
zusammen. Die gesamte Dorfbevölkerung stand wie in einer Arena drum herum. Die
Alten von unserem Treck blieben in der Schule, aber wir neugierigen Kinder blieben
dabei. Dann holte einer ein Pferd, mit einem Zuggeschirr, an das man die beiden Männer,
an Stricken, mit den Füßen zum Pferd, in 3 m Abstand anband. Unter lautem
Gejohle lief der dann mit dem Pferd um den Dorfplatz, Runde um Runde und die Leute
am Rande droschen mit Knüppeln und Peitschen auf die beiden Männer ein. Das
ganze eskalierte immer blutrünstiger von den beiden (schon älteren) Männern
lebte wohl keiner mehr. Ich bekam Angst und lief auch zur Schule, in der wir untergebracht
waren. Noch am gleichen Tag hieß es haut ab, ihr habt in unserem Dorf nichts
mehr zu suchen. Die Dorfbewohner waren zu uns bis kurz vorher überfreundlich gewesen
und hatten uns Milch, Eier, Butter, Käse und Brot verkauft. Ich kann rückschauend
bis heute nicht begreifen, wie man sich von gutmütigen Schwejks über
Nacht in blutrünstige Monster verwandeln konnte. Angeblich waren die fanatischen,
täglichen Rundfunkansprachen des Herrn Benès aus London, Schuld an dieser
verborgenen, angespannten Stimmung, die sich dann explosionsartig entlud.
Wir sind dann mit nur noch 5 Treckwagen über Karlsbad, Plauen, Chemnitz, Görlitz,
Breslau wieder Richtung Namslau, durch eine Art Niemandsland gefahren, dem man ansah,
dass kurz vorher noch gekämpft worden war.
Schon ab Chemnitz sah man auf den Feldern und Wiesen neben der Strasse tote Tiere liegen
Besonders spektakulär waren tote Kühe, die wie aufgeblasene, zum Zerplatzen
gespannte Luftballons die Füße zum Himmel streckten. Irgendwo zwischen Görlitz
und Liegnitz hat uns ein Erlebnis besonders betroffen gemacht. Als wir am frühen
Morgen durch eine Vorortstrasse fuhren, hingen am Staketenzaun einer großen Villa,
X-förmig, nebeneinander an den Zaun gebunden, zwei nackte Frauen, vielleicht Mutter
und Tochter aus der Villa , beide tot.
Wir waren unter den letzten die noch über die Neisse gekommen waren, danach wurde
die Grenze dicht gemacht. Besonders die Fahrt durch das total zerstörte Breslau
war sehr deprimierend. Der Altbürgermeister Brand aus Lankau, der mit seiner keifigen
Frau bei uns auf dem Wagen mitfuhr, jammerte ununterbrochen vor sich hin, was aus ihm
werden solle. Wir kamen am 5. Juni 1945 wieder in Lankau an, dass wir am 18./19.Januar
verlassen hatten.
Mein Vater kam einen Tag später nach Hause. (Er war noch in Luditz zum Volkssturm
eingezogen worden, und musste sich in Peterswaldau melden.) Da das Haus abgebrannt
war, beschlossen wir, in die Bürobaracke des Baugeschäfts einzuziehen. Einen
guten Küchenherd und ein paar Möbel konnten wir uns leicht besorgen. Das
Dorf war noch leer, wir hatten freie Auswahl. Die ersten Ostpolen kamen ca.10 Tage
später. Sie rannten aufgeregt im ganzen Dorf herum und entschieden sich meist
für die kleineren Häuser. Zu peinlichen Zwischenfällen kam es, wenn
zurückgekehrte Deutsche, auch Einzelpersonen, was selbstverständlich, war
zunächst in Ihren eigenen Häusern Unterschlupf gesucht hatten. Wenn das Haus
gefiel, wurden sie unmissverständlich rausgeworfen. Dabei konnte man eine sich
von Tag zu Tag steigernde Aggressivität beobachten. Nach 4 Wochen wohnten die
Deutschen daher nur noch in den Zimmern eines Gemeinde-Auszüglerhauses, in dem
unten der Kindergarten und oben kleine Wohnungen für alte, alleinstehende Leute
untergebracht waren. Wir hatten in der Baracke zumindest in dieser Hinsicht bis zur
Vertreibung unsere Ruhe. Meine Mutter schlief allerdings wegen der vielen nächtlichen
Hausbesuche durch betrunkene Russen, während des ganzen Sommers, ungestört,
auf dem versteckten Balkon unseres abgebrannten Hauses, den man nur mit einer Leiter
erreichen konnte.
Auf der Straße von Namslau nach Lankau kam uns Frau Bärwald entgegen und
freute sich uns wiederzusehen. Als wir sie natürlich sofort nach unserem Großvater
fragten, den sie gut gekannt hatte, sagte sie uns, dass unser Haus abgebrannt sei und
dass sie unseren Großvater seit Januar nicht gesehen hätte. Außer
meinem Großvater war nur noch dieses 80-jährige, aber noch sehr rüstige
Ehepaar Helene und Christian Bärwald zurückgeblieben. Der Mann war Kammerdiener
beim Baron von Stosch gewesen, später Feldschütz und Waldläufer. Beide
überlebten.
Mein Großvater hatte besonders vor den Russen keine Angst, er war im 1.Weltkrieg
in russische Gefangenschaft geraten und gut behandelt worden.
Ich glaube es waren die im Ort zurück gebliebenen polnischen Arbeiter und Knechte,
die insgeheim alle bewaffnet und gut organisiert gewesen waren und der Stunde der Befreiung
schon entgegengefiebert hatten. Die wollten sicher in unser Haus um da zu feiern und
zu plündern. Mein Großvater wollte sie vermutlich nicht reinlassen da haben
sie ihn erschlagen. Allerdings fanden wir in der Nähe unseres Hause weder einen
Hinweis auf eine vergrabene Leiche, noch Knochen in der ausgebrannten Ruine unseres
Hauses.
Auch an anderen Stellen im Dorf wären uns frisch gegrabene Löcher aufgefallen.
Andere Möglichkeit ? Die Russen haben damals jeden den sie kriegen konnten geschnappt
und dazu benutzt um Vieh, vor allem Kühe, Richtung Osten zu treiben. Die Ställe
der Bauernhöfe waren doch voll damit. Frage : "Wie weit kann eine Kuh im
Winter laufen ?" In Lankau, gab es im Januar 1945 Hunderte von Kühen, Schweinen,
Ziegen, Enten, Gänsen, Hühnern, Kaninchen, etc. Als wir Anfang Juni 1945
wieder zurückgekehrt waren, gab es im Dorf kein einziges lebendes Tier mehr !
Aber es gab auch keine Kadaver ! Nur einige Hunde, die offensichtlich erschlagen oder
erschossen worden waren. Wo also waren die Tiere hingekommen ?? So war das in allen
Dörfern zwischen Ostsee und den Sudeten.
Ich wünschte mir, dass die Zeitspanne 01- 06 / 1945 mal historisch, wahrheitsgemäß
aufbereitet würde, um zu sehen was in dieser Zeit dort wirklich geschah. Irgendwo
las ich, dass polnische "Suchtrupps" schon unmittelbar hinter der russischen
Front jedes Haus nach Verwertbarem durchkämmten. Später war das offiziell
verboten, denn es gehörte dem polnischen Staat. Im Kreis Namslau weiß ich
allerdings, dass eine selbsternannte Kulturbeauftragte mit dem sehr gut gewarteten,
intakten Feuerwehrauto (!) von Namslau sämtliche Schlösser abgeklappert hat
und alles was antik wertvoll war, wie Gemälde, Möbel, Musikinstrumente, Teppiche,
Besteck, Geschirr, etc. in ein eigenes Depot gebracht hat. Die ostpolnischen "Neusiedler"
kamen ja erst im Juli / August 1945, aber da war alles schon geraubt, geplündert,
aussortiert und verwüstet.
Dabei sahen alle Wohnungen, in die man reinschaute gleich aus. Der Inhalt von Regalen,
Schränken oder Vorratskammern, war gleichmäßig über die Fußböden
aller Räume verteilt.
Eingemachte Vorratsgläser (Krausen) mit Fleisch, Wurst, Früchten, Marmelade,
Honig etc. grundsätzlich zerschlagen und Blechdosen durch Stiche mit dem Seitengewehr
unbrauchbar gemacht. Über allem lag ein Flaum von Bettfedern aus dem aufgeschlitzten
Bettzeug. Ich weiss nicht, ob das Gerücht stimmt, dass die Russen die Betten aufgeschlitzt
haben um an die roten Inletts zu kommen, um daraus Fahnen zu machen? Oder dass sie
Essvorräte in Annahme sie seien vergiftet, grundsätzlich unbrauchbar gemacht
haben. Es sah jedenfalls überall nach Arbeit aus oder nach unendlicher
Freude am sinnlosen Zerstören.
Frau Bärwald, die mit ihrem Mann in einem kleinen, zum Dominium gehörenden
Haus am Nordrand des Dorfes wohnte, hat sich darüber besonders geärgert.
Überall waren gute Hausvorräte mutwillig kaputtgemacht worden, von denen
sie sich wochenlang hätte ernähren können. Sie war fast täglich
- ohne Gewalt - von Russen besucht worden, die ihr regelmäßig
Lebensmittel und Wodka mitgebracht hatten. Herr Bärwald bekam eine Flasche Wodka
und musste sich auf die Bank vor dem Haus setzen, während die Russen in der guten
Stube mit der 81-jährigen feierten..
Sie verehrten sie sogar und sagten sie sei sehr sauber und gesund. So ein bißchen
verstand ich damals schon davon, ich weiß aber, dass die anderen noch zurückgekehrten
Deutschen, einige Volksturmmänner und der Rest des Trecks, oft kopfschüttelnd
darüber sprachen.
Als wir im Herbst 1946 endgültig vertrieben wurden, im Güterwagen über
ein Lager Küchensee/ Storkow , südöstlich von Berlin, nahmen wir das
Ehepaar Bärwald mit und brachten es zu ihrem Sohn in die Gegend von Fulda, wo
sie 1949 kurz nacheinander starben.
Joachim Kirsch |