Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keine Industriearbeiter im heutigen Sinne.
Zur Zeit der Zünfte gab es Zunftgesellen und Lehrlinge. Sogar die Bergleute nannten
sich Bergknappen. Mit der Gründung der Fabriken entstanden die heutigen Arbeitnehmer-
Für die Landbevölkerung war die gegebene Arbeitsstätte das Rittergut.
Durch die vorhergehende Leibeigenschaft und Hörigkeit den Gutsherren gegenüber,
an diese Arbeitsstätten gewöhnt, gingen sie nach der Befreiung von allen
Frondiensten gegen Bezahlung, also für Geld, auf die Güter weiterhin arbeiten
und viele wurden Landarbeiter.
Bei den Bauern gab es das Gesinde mit einer Gesindeordnung. Diese war Anfangs ein ungeschriebenes
Gesetz, wurde aber von Dienstboten sowie ihrem Herrn eingehalten. Da gab es den Großknecht
(Stellvertreter des Bauern), die Großmagd als Stütze der Bäuerin, alsdann
den Zweitknecht bis herab zum Hütejungen und die Zweitmagd bis hinunter zum schulpflichtigen
Kindermädchen. In Bayern hat sich dieser festgefügte Dienstbotenstamm bis
Ende des letzten Krieges 1945 erhalten.
Die Löhne - besonders die Barlöhne - für diese Arbeitnehmer in Schlesien
waren sehr gering. Je weiter man nach Westen kam, umso besser war die Bezahlung für
ländliche Arbeiter. Schon in Niederschlesien zahlten die Rittergüter besser
als z.B. in Oberschlesien. Deshalb gab es auf den Dörfern viele Kleinlandwirte
mit großer Kinderzahl, Diese strebten nach besserem Verdienst und besserer Arbeitsmöglichkeit.
So zog es manche nach dem Westen. Die Domänen Rogau, Jordansinühl, auch Güter
aus den Kreisen Löwenberg, Waidenburg, Jauer und Liegnitz warben solche Arbeiter
im Kreise Namslau an. Gewöhnlich kam in den Wintermonaten ein Beamter solcher
Güter in unsere Gegend, bot Arbeit, Lohn, Wohnung und Deputat vom Frühjahr
bis zum Herbst in zufriedenstellender Höhe an und gewann je nach Bedarf 10 - 30
Frauen und Mädchen für Feldarbeit und Männer und Burschen als Gespannführer,
Es wurde ein Vertrag (Kontrakt) abgeschlossen für die ganze Periode von der Aussaat
bis zur Zuckerrübenernte? also für eine ganze Saison, und so entstand der
Ausdruck der Saisonarbeiter in der Landwirt- schaft.
Diese Hilfskräfte wurden von den Gütern mit Pferdegespannen und Kastenwagen
oder auch Leiterwagen, im Dorf abgeholt und nach Beendigung der Zuckerrübenernte
wieder ins Dorf zurückgebracht.
Manche Rittergüter gaben auch eine freie Urlaubsfahrt zu den Pfingstfeiertagen.
Die Gespanne hielten sich 2-3 Tage im Dorfe auf, um dann in fröhlicher Fahrt wieder
an die Arbeitsplätze zurückzukehren. Als bequeme Sitzgelegenheit auf den
federlosen Wagen dienten einige Gebund Stroh.
Mit fortschreitendem Ausbau der Eisenbahnlinien bot sich die Gelegenheit, schnell und
weiter nach Westen vorzustoßen. Die Magdeburger Börde die Altmark Hessen
und alle damaligen "Sachsen" Länder waren erstrebenswerte Ziele. Dort
wurde die Landarbeit noch besser bezahlt als in Niederschlesien.
Verlockend war dieses Mitteldeutschland von der Elbe bis zur Weser. Wer vermochte dem
Drang zu widerstehen, neben gutem Verdienst auch noch Land und Leute kennen zu lernen!
Die Zuckerrübenanbauer der dortigen Gebiete warben um die arbeitsfreudigen, bescheidenen
und genügsamen, schlesischen Mädchen und Frauen. Im Laufe weniger Jahre befand
sich ein Teil der kleinbäuerlichen Jugend auf dem Weg ins Sachsenland (Provinz
Sachsen). Nicht nur oberschlesische Töchter und Söhne zogen über die
Elbe. Diese Reiselust griff auch auf mittelschlesisches Gebiet über, und es gibt
wohl kaum ein Dorf in unserem Kreise Namslau, aus dem nicht ein Teil der Jugend den
Weg nach Westen zog.
Zuerst waren es einzelne oder kleine Gruppen, welche die Arbeitsaufnahme in der Ferne
wagten. Einige Jahre später formierten sie sich zu Arbeitsgemeinschaften unter
Führung einer Vorarbeiterin. Diese mußte Führereigenschaften haben.
Sie übernahm die Anwerbung der notwendigen Kräfte, unterschrieb den Kontrakt
für alle, war verantwortlich für sittlich und moralisches Verhalten und Sprecherin
für die ganze Gemein-schaft. Sie war sozusagen der erste Betriebsrat Für
die Anwerbung bekam sie vom Arbeitgeber einen Taler für jeden Kopf. Sie suchte
durch Auslese unter den Kolleginnen die Zuverlässigsten aus und kassierte von
jeder Bewerberin eine Vermittlergebühr.
Neben den großen Arbeitsgruppen gab es natürlich auch Gemeinschaften von
3-5 Mädchen, die auf die Bauernhöfe gingen. Daselbst kam es oft zu sehr freundschaftlichen
Beziehungen, so daß die Mädchen jahrelang zu Stammarbeitern wurden und in
vielen Fällen im Dorfe seßhaft geworden sind.
Die Sachsengänger erhielten von den Arbeitgebern "möbilierte" Wohnungen
und Verpflegung in Naturalien. Dies waren Mehl, Erbsen, Bohnen, allerlei Gemüse,
Kartoffeln und einen bestimmten Geldbetrag für Fleischwaren. Bei Einhaltung des
Arbeitsvertrages wurde die Bahnfahrt hin und zurück vergütet.
Bei der Genügsamkeit ihrer Lebensweise sparten sie viel von dem erhaltenen Deputat
auf und nahmen volle Säcke davon auf die Heimreise mit.
Die Arbeit wurde bei Zuckerrüben im Akkord vergeben. Die Frauen arbeiteten von
Sonnenaufgang bis in die späten Abendstunden und verdienten sehr gut. Durch den
guten Barverdienst wurde es ihnen möglich, sich gut zu kleiden und beachtliche
Beträge zu sparen. So manches Mädchen brachte die ansehnliche Summe von 100
Talern ins Elternhaus. Manche strebsame Tochter sparte im Laufe vieler Jahre soviel,
daß sie sich auf einen Bauernhof verheiraten konnte.
Viele der Sachsengänger fanden Ehepartner in der Fremde, verheirateten sich daselbst
und kamen nicht mehr nach Schlesien zurück.
Es blieb aber nicht bei den Sachsengängern, Bald erschlossen sich neue Arbeitsgebiete
in den Gärtnereien um Berlin und den Baumschulen um Hamburg und anderer Großstädte.
Auch dorthin zogen alljährlich Arbeitergruppen zur Saisonarbeit.
Immer zahlreicher im Laufe der Jahre gingen auch Männer zu Hoch- und Tiefbaufirmen,
in Ziegeleien und Fabriken nach West- und Mitteldeutschland. Die größte
Anziehungskraft aber hatte das Ruhrgebiet Die Städte Bochum, Dortmund, Essen?
Düsseldorf u.v.a.sind von Schlesiern durchsetzt, denn viele von ihnen fanden dort
Arbeit und Anstellung auf Lebenszeit. Sie begründeten Familien und kehrten
nicht mehr zurück.
Sehr fruchtbringend wirkte sich die Arbeit in der Ferne auf unsere Landsleute aus.
Die Oberschlesier vervollkommneten ihre Sprache, sie bekamen ein sicheres Auftreten,
die Schüchternheit war überwunden, Minderwertigkeitsgefühle schwanden;
man hatte viel gesehen und erlebt und konnte auch etwas erzählen. Die Mädchen
legten die dörfliche Tracht ab und kleideten sich schick, nach städtischer
Art, wie sie so gerne sagten. Viele von ihnen waren in Haushaltungen tätige daselbst
lernten sie kochen und Hauswirtschaft.
Sie besuchten allerlei Veranstaltungen, sangen schöne, alte Volkslieder und neueste
Schlager, lernten andere Volkstänze und zeigten bei Hochzeiten und Veranstaltungen
gern ihre Kunst.
In den Gärtnerein lernten sie neuzeitlichen Gemüsebau und seine Verwertung,
Pflege der Blumen und Samenzucht. Seltsame Exemplare wurden erworben und schmückten
daheim die Fensterbretter,
Die Burschen und Männer waren aufnahmefreudig für neuzeitliche Feldbestellung,
für richtige Anwendung von Kunstdünger, der sich damals im Anfangsstadium
befand, für hochwertiges Saatgut und für neue Maschinen und Hilfsgeräte.
Daheim wurden Erfahrungen und neue Erkenntnisse zur Anwendung gebracht. So wurde viel
Neuartiges nach Schlesien verpflanzt.
Die letzten Sachsengänger kehrten Anfang Dezember ins Elternhaus zurück.
Sie ruhten von der Arbeit aus, trugen gern neu erworbene Kleidung zur Schau, besuchten
Tanzvergnügen und die Veranstaltungen des Fasching. Anfang März rüsteten
sie wieder für die neue Fahrt in die Ferne.
Wehmütig und etwas neidisch schaute beim Abschied die zurückbleibende Jugend
und schwor sich insgeheim, im nächsten Jahre mit dabei zu sein.
Durch den Abzug der ortsnahen Arbeiter entstanden empfindliche Lücken im Arbeitskräftebedarf
der eigenen Landwirtschaft. Dieser Arbeitermangel war eine begehrenswerte Gelegenheit
für die über der nahen Grenze wohnenden Polen. Sie versuchten schon jahrzehntelang
sich zwischen die deutschen Hilfskräfte einzudrängen. Seit altersher sickerten
sie schwarz zwischen den schwarz/weißen Grenzpfählen in Schlesien ein.
Sie unterboten die Löhne der deutschen Menschen, denn das deutsche Geld in Rubel
umgewechselt - bis 1918 grenzte ja Deutschland im Osten an das zaristische Rußland
- ergab in ihrem Land immer noch einen sehr guten Verdienst.
Notgedrungen griffen die landwirtschaftlichen Betriebe auf die Ausländer zurück.
Die Gutsverwaltungen warben sie an. Es waren hauptsächlich Galizier, die die Arbeit
gern annahmen. Die Güter Eckersdorf und Sterzendorf beschäftigten große
Gruppen galizischer Frauen und Männer als Saisonarbeiter. Viele von ihnen blieben
dauernd auf ihren Arbeitsplätzen. Manche bewarben sich um deutsche Staatszugehörigkeit,
die sie auch erhielten. Die zahlreichen Kinder dieser Familien gingen teilweise in
andere Berufe über, sind und waren in Deutschland geboren und leben unter uns.
Die gewaltsame Ausweisung der Schlesier nach Ende des zweiten Weltkrieges führte
sie wieder in westdeutsches Gebiet zurück. So mancher Schicksalsgenosse mag als
Heimatvertriebener in die Heimat seiner Urahnen gekommen sein. So mancher lebt vielleicht
unbewußt im Kreise seiner Verwandten in Thüringen, Hessen, Franken
oder Schwaben.
Karl Schiller (fr.Granitz)
Quelle: NAMSLAUER HEIMATRUF Nr.46/März 1968
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