Am 26. April 2011 bin ich mit meiner Frau Luzia, Tochter Clarissa und den Enkelkindern
Benjamin, Esther und Simon in meine Heimat Schwirz gefahren.
Die Enkelkinder wollten doch einmal sehen, wo der Opa gewohnt hat. Herr Leo Biallas
hat uns durch Schwirz geführt. Vielen Dank!
Meine Enkel baten mich: Opa schreib doch einmal kurz auf, wie du die Flucht und
Nachkriegszeit erlebt hast.
Am 19. Januar 1945 kam abends der Räumungsbefehl. Am nächsten Morgen war
Schwirz wie ausgestorben. Mein Vater, Frau Gawlitta und Familie Pieszy machten ihre
Pferdefuhrwerke für die Flucht fertig. Zu Vaters Gespann kamen noch außer
meiner Schwester Anni und mir noch Paul Heik mit seinen beiden Kindern Paul und Cäcilie
und Schwägerin Schwintek. Unser Treck bestand aus drei Gespannen mit ca. 25 Personen.
Meine Mutter mit den drei jüngeren Geschwistern - Hildegard 4 Jahre, 9 Monate;
Rita 2 Jahre, 8 Monate und Josef 8 Monate - nahm Herr Fraunholz in seinem PKW mit nach
Landeshut, dem angegebenen Treffpunkt der Schwirzer. Unser Dreiwagentreck"
machte sich auf den Weg zur Oderüberquerung nach Ohlau, da die Brücke in
Brieg in den nächsten zwei Stunden gesprengt würde, wie von Militärfahrzeugen
zu hören war. Auch die Straßen nach Ohlau waren von Flüchtlingen überfüllt.
Das Chaos kann man sich kaum vorstellen. Wir standen mehr als wir fuhren, rechts ranfahren
und Platz für die Wehrmachtsfahrzeuge machen. Nachdem wir mehr als durchgefroren
waren - minus 20 Grad - machten wir im nächsten Dorf, das bereits auch schon evakuiert
war, in einem Haus Rast. Am nächsten Morgen war die russische Front da. Unsere
Männer wurden nach Waffen durchsucht, ihre Uhren und Trauringe abgenommen,
unsere Fuhrwerke nach brauchbaren Dingen durchwühlt, die Pferde bis auf eines
mitgenommen. Den Russen haben wir gesagt, wir seien Polen und wollen nach Hause. Unsere
Dienstmagd Stascha war Polin. Einige Treckler" beherrschten das sogenannte
Wasserpolnisch". Mein Vater als gebürtiger Westfale mußte sich
stumm stellen.
Mit einem kranken Pferd und einigen Habseligkeiten machten wir uns auf den Heimweg
nach Polen". Unterwegs sahen wir viele Tote: Frauen mit Kindern, Soldaten,
die von Panzern überrollt waren. Es war furchtbar, diese Grausamkeiten zu
sehen. Wir waren froh überlebt zu haben. Die Nacht verbrachten wir in einem Gutshaus
im hinteren Viertel des großen saalenmäßigen Raumes, in den später
auch russische Soldaten einquartierten, die uns - Polen - aber nicht belästigten.
Am nächsten Morgen machten wir uns schon früh auf den Weg zurück nach
Schwirz und erreichten am späten Nachmittag Eckersdorf auf der Hauptstraße
nach Schwirz. Da kam uns ein ehemaliges bekanntes polnisches Dienstmädchen aus
Städtel entgegen und warnte uns: Geht nicht nach Schwirz, dort wird jeder
erschossen!" Was tun? Wir kehrten in ein leeres Siedlungshaus ein, um zu beratschlagen,
was zu tun sei. Kurze Zeit später drangen russische Soldaten ins Haus, die versuchten,
das Haus mit uns abzufackeln. Gott sei Dank verschwanden die Eindringlinge wieder,
und wir konnten das Feuer löschen. Bald darauf betrat ein einzelner russischer
Soldat unseren Raum, zündete in der Dunkelheit sein Feuerzeug an, sprach Paul
Heik an, der zwischen seinen beiden Kindern an der Zimmerwand stand und schoß
ihm in den Hals. Er war sofort tot.
Der Todesschütze drehte sich zur Seite und schoß Hannes Gawlitta, der auf
dem Sofa seiner Mutter saß, in die Brust. Hannes hat noch einige Minuten gelebt
und mit dem Tode gerungen. Danach verschwand der Todesschütze. Wir alle waren
wie versteinert. Wer wird der Nächste sein?
Wir verließen das Haus und kehrten ein in die Futterküche und den Kohlen-Holzschuppen
des abgebrannten Nachbarhauses. Als wir von den Russen nichts mehr hörten, machten
wir uns in der Nacht zu Fuß auf den Weg nach Schwirz zu Frau Tronschick, die
nicht geflohen war und überlebt hat. Sie kochte uns Tee. Die Nacht blieben wir
zusammen und warteten auf den Morgen. Was wird er uns bringen? Viele Wohnhäuser
haben die Russen abgebrannt, so auch das Haus von Gawlitta. Unser Haus stand noch.
So zogen Gawlittas - die Mutter mit den drei Töchtern -zu uns. Zum Schlafen -
soweit man überhaupt schlafen konnte - zogen die jungen Frauen Anna, Maria und
Klara - auf den Heuboden in unsere Scheune, um nicht belästigt und vergewaltigt
zu werden. Auf dem Hof Röbke richteten die Russen eine Kommandantur ein. Dorthin
wurde das umherstreunende Vieh zusammengetrieben und mußte von den Deutschen
versorgt werden. Während der Beschäftigung auf der Kommandantur war man von
Übergriffen ziemlich sicher.
Meinem Vater und - ich glaube - Paul Janie wurde vom Kommandanten befohlen, die gefallenen
bzw. erschossenen Soldaten zu beerdigen. Sie wurden mit einem Ochsenschlitten zu einem
Massengrab gezogen und fanden ihre Ruhestätte in einem unbekannten Splittergraben
am Dorfrand.
Mein Vater und Herr Slabik, der wohl nicht getreckt" war, wurden nach Namslau
zu - Ausräumungsarbeiten - beordert. Dem war aber nicht so. In einem Gefangenentransport
ging es nach Saporoschje am Dnjepr ins Lager für Zivilinternierte - Rußland.
Meine Schwester Anni und ich wurden von der Familie Gawlitta herzlich und liebevoll
umsorgt. Ohne sie hätten wir diese turbulente Zeit nicht über- und durchgestanden.
Hungern mussten wir nicht. In den Kellern der ausgebrannten Häuser gab es genügend
Vorräte. Als kleiner Junge lernte ich Schnell das Organisieren". Wir
lebten zeitlos. Elektrisches Licht gab es nicht, folglich auch keine Radionachrichten.
Froh und zufrieden waren wir, wenn wir den Tag und die Nacht einigermaßen ruhig
überlebt haben. Wir warteten auf das Kriegsende und die heimkehrenden Schwirzer.
Mit viel Wodka feierten die Russen den Sieg am 8. Mai. Gietler kapuuut!"
Schon bald kehrten die ersten Geflohenen" von Strapazen gezeichnet, aber
voller Erwartungen, zurück. Die ersten Polen hatten schon Schwirz erobert"
und die leer stehenden Häuser besetzt, später auch die von Deutschen bewohnten.
Meine Mutter hat mit meinen drei jüngeren Geschwistern das Kriegsende in Leitmeritz
-Sudetenland -überlebt und ist mit dem Kinderwagen auf drei Rädern zu Fuß
und zum Teil per Anhalter Juni nach Schwirz zurückgekehrt. Die Wiedersehensfreude
war groß. Aber w o ist der Vater? Was soll aus uns werden? Wir wohnten weiterhin
in unserem Haus, obwohl auch eine Polenfamilie von unserem Haus und Hof Besitz ergriffen
hatte. Die Frage war: Wie werden wir überleben? Woher bekommen wir etwas
zu essen?"
Mein Vater hatte im Herbst 1944 selbstverständlich seinen Acker mit Wintergetreide
- Roggen -bestellt. Der Pole erlaubte" meiner Mutter, von unserem Feld eine
kleine Fuhre Roggen zu holen. Herr Paul Janie - ich meine, daß er es war - holte
mit seinem Ochsen einen kleinen Wagen Roggen-Getreide. Meine Mutter und ich haben das
Getreide auf unser Scheunentenne mit dem Dreschflegel gedroschen. Mit einem Sack Roggen
sind wir mit dem Handwagen zur Mühle nach Krogulno gefahren. Damit man den
Sack Roggen nicht sehen konnte, war er mit Lumpen" zugedeckt, oben auf dem
Sack saß mein 1-jähriger Bruder, meine Mutter und Schwestern begleiteten
seitlich den Handwagen, den ich zog. Wir hatten Mehl und konnten in unserem Backofen
im Keller Brot backen.
Immer öfter ging ich zum Elternhaus meiner Mutter nach Friedrichsthal Krs. Oppeln
- 18 km - und kehrte mit Eßbarem" wieder heim. Frau Gaida in Krogulno,
eine weitläufige Verwandte meiner Mutter, hat unsere Familie auch auf vielfältige
Weise unterstützt. Vielen Dank! Mitte Oktober 1946 - das genaue Datum weiß
ich nicht mehr - mußten alle Deutschen mit geringerem Gepäck die Heimat
Schwirz verlassen. Meine Mutter hatte von unserem Polen Rogalski den Rausschmisstermin"
tags zuvor erfahren und ist mit uns nach Friedrichsthal - ihrem Geburtsort abgehauen".
Wie durch ein Wunder wurde Vater aus dem russischen Gefangenenlager Ende September
1946 in die Sowjetische Besatzungszone entlassen. Er wohnte in Gotha und machte sich
sofort auf die Suche nach seiner Familie. Er schrieb an Pfarrer Ogorek nach Friedrichsthal.
Nach 4-wöchiger Postzustellung erfuhren wir vom Lebenszeichen unseres Vaters.
Zwischenzeitlich wurde ein
erneuter Flüchtlingstransport zusammengestellt für alle Nicht-Oberschlesier
und unerwünschten Deutschen, die die Heimat verlassen mußten. Am 8. Dezember
1946 wurde der Aussiedler-Transportzug auf die Reise gen Westen geschickt, cirka 50
- 60 Personen pro
Waggon. Nach einer langwierigen Fahrt - nachdem wir unterwegs noch einmal gründlich
entlaust - (Läusepulver) wurden, sind wir schließlich im Auffanglager
Görlitz gelandet. Sofort haben wir unserem Vater nach Gotha ein Telegramm geschickt.
Nach einer langen Odyssee waren wir alle wieder glücklich vereint. Das grenzt
an ein Wunder! Wir wurden in den Ort Schirgiswalde Krs. Bautzen eingewiesen und bezogen
eine Einzimmerwohnung.
Vater hat Kontakt mit seinem Elternhaus - Bauernhof- in Borgentreich (Westf.) -
Englische Besatzungszone - aufgenommen. Onkel Josef und Tante Anne haben uns eingeladen
zu kommen.
Am 27. April 1947 sind wir nach größeren Schwierigkeiten der Sowjetischen
Besatzungszone
im Westen angekommen.
Deo gratias!
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