Die blutende Grenze Niederschlesiens
Notlage und Sorgen des Grenzkreises Namslau.
Von Landrat Danckelmann.

Leider ist es wenig bekannt, daß durch den Machtspruch von Versailles auch Niederschlesiens östlichen Kreisen schwere Wunden geschlagen wurden. Der niederschlesische Kreis Namslau, früher ein Binnenkreis, von dem russischen Reiche durch die östlich vorgelagerte Provinz Posen getrennt, ist durch den Verlust dieser Provinz ein Grenzkreis geworden. Doch auch über die Grenze von Posen hinaus streckte das neu entstandene Polenreich seine Hand weiter westwärts nach dem Kreise Namslau aus mit dem unerwarteten Erfolge, daß die alliierten und assoziierten Mächte es für Recht befanden, ohne Abstimmung und entgegen allen entrüsteten Protesten der Bevölkerung das zum Kreise Namslau gehörige urdeutsche Reichthaler Ländchen, umfassend die Stadt Reichthal. neun Landgemeinden und sechs Gutsbezirke mit zusammen 4590 Einwohnern und einer Fläche von 8482 Hektar, dem Polenreiche zuzuteilen.

Als Ende Juni 1919 bekannt wurde, daß durch Artikel 27.7 des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 das Schicksal des Reichthaler Ländchens und fast der Hälfte des Kreises Groß-Wartenberg besiegelt war, wirkte diese Nachricht in den betroffenen Gebieten wie ein vernichtender Donnerschlag. Wie konnte eine solche Entscheidung gefällt werden? In dem Entwurf des Friedensdiktates vom 7. Mai 1919 war von einer Abtretung dieser Gebiete keine Rede. Nach der ursprünglichen Fassung des Artikels 27,7 sollte die Grenze längs der bisherigen Westgrenze von Posen bis zur Bartsch verlaufen, also die Kreise Namslau und Groß-Wartenberg unberührt bei Deutschland lassen, allerdings die nördlich der Bartsch gelegenen Teile von Militsch und Guhrau ebenso wie fast ganz Oberschlesien ohne weiteres zu Polen schlagen. Es ist bekannt, daß daraufhin in ganz Oberschlesien, in Militsch und Guhrau ein Sturm der Entrüstung losbrach und auf die feindlichen Machthaber nicht ohne Eindruck geblieben ist, sodaß die gefährdeten Teile von Militsch und Guhrau bei Deutschland verblieben und Oberschlesien das Recht der Abstimmung erhielt. Warum aber auch nicht Reichthal und Groß-Wartenberg? Weil aus diesen Gebieten keine Proteste eingegangen waren und die deutsche Friedensdelegation in ihren Gegenvorschlägen vom 29. Mai 1919 diese Gegend nicht erwähnte. Dazu lag auch gar kein Anlaß vor, da die ursprünglichen Friedensbedingungen Namslau und Groß-Wartenberg, wie schon oben gesagt, überhaupt nicht berührten. Bis zur Feststellung der endgültigen Friedensbedingungen ist von polnischer Seite im Stillen eifrig mit völlig irreführenden Mitteln gearbeitet worden, um Zu de" gründen, daß die begehrten Teile von Namslau und Groß-Wartenberg polnisches Gebiet seien. Der Zweck wurde erreicht, indem die Mantelnote der alliierten und assoziierten Mächte vom 16. Juni 1919 diktatorisch festsetzte: "Infolgedessen erwarten die verbündeten und assoziierten Mächte von der deutschen Delegation innerhalb von fünf Tagen, vom Tage der gegenwärtigen Mitteilung gerechnet, eine Erklärung, die ihnen zu erkennen gibt, daß sie bereit ist, den Vertrag so, wie er heute ist. zu unterzeichnen. Andernfalls wird der Waffenstillstand beendet werden, und die verbündeten und assoziierten Mächte werden die Maßnahmen ergreifen, die sie für notwendig erachten werden, um ihre Bedingungen aufzuerlegen." - Unter diesen Umständen hatte die deutsche Delegation keine Möglichkeit mehr, gegen die Losreißung unserer Grenzbezirke zu protestieren. Das Unglaubliche war unter dem Zwange der Gewalt Ereignis geworden.

Das Reichthaler Ländchen ist deutsches Land. Von den 1745 Wahlberechtigten des Reichthaler Ländchens haben sich bei der im November 1919 veranstalteten Probeabstimmung 1927 - 93 Prozent für Deutschland erklärt und bei der Deutschen National" Versammlung am 19. Januar 1919 von 2227 Wahlberechtigten sich 1827 - 82 Prozent an der Wahl beteiligt, obwohl der polnische Volksrat für diese Wahl Wahlenthaltung proklamiert hatte.
Zwar konnte die Bevölkerung gegen ihre Losreißung von Deutschland, wie oben gezeigt worden ist, vor dem Friedensschluß nicht protestieren. Kaum war aber das Ungeheuerliche bekannt geworden, als ein Sturm von Protesten losbrach. Kein einziger Ort hat sich dabei ausgeschlossen. Fremdländische Kommissionen wurden herbeigerufen, um unbeeinflußt den Willen der Bevölkerung festzustellen. Mit einer Einmütigkeit, die dem Kenner der Verhältnisse nicht überraschend kam, wurde das weitere Verbleiben bei Deutschland gefordert, und auch unter dem jetzigen polnischen Druck hat die Bevölkerung die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Deutschland nicht aufgegeben.
Die Hoffnung auf eine Wiedergutmachung des an dem Reichthaler Ländchen begangenen Unrechts ist diesseits wie jenseits der neuen Grenze gleich lebendig. Denn nichts kann darüber hinwegtäuschen, daß die Bewohner des Reichthaler Ländchens der deutschen Nation und Kulturgemeinschaft zugehörig sind und sich nach wie vor dieser zugehörig fühlen. Als am 20. Januar 1920 die Stadt Reichthal von den Polen in Besitz genommen wurde, fanden die einmarschierenden Truppen die Haustüren und Fensterläden verschlossen und die Straßen menschenleer. Unter der Überschrift "Die tote Stadt" berichtete damals über den Einzug der Polen in Reichthal die ganze deutsche Presse. Nicht anders ist die Gesinnung, die die Reichthaler heute im Herzen tragen.

Durch rauhen Eingriff hat die neue Grenzziehung zerstört, was in langer Kulturarbeit aufgebaut worden war. Vier durchgehende Kunststraßen vermittelten im Kreise Namslau den Verkehr nach dem Reichthaler Kreisteil. Sie sind durch die neue Grenze abgeschnitten. Die Bahnlinie Namslau-Reichthal- Kempen, die früher einen lebhaften Personen- und Güterverkehr hatte, findet jetzt an der neuen Grenze ihr Ende. Jenseits der Grenze auf nunmehr polnischem Gebiet sind auf eine lange Strecke die Schienen aufgerissen und entfernt. Ein Kulturbild aus dem 20. Jahrhundert! Den Verkehr mit dem Reichthaler Ländchen vermittelt heute auf einer Grenzstrecke von 25 Kilometern ein einziger Grenzübergang, was bei den vielfachen Beziehungen wirtschaftlicher und verwandtschaftlicher Art zwischen den Ortschaften auf beiden Seiten der neuen Grenze ein schwer empfundenes Hindernis bedeutet. Die Grenzführung selbst trägt den natürlichen Zusammenhängen in keiner Weise Rechnung. Besonders widersinnig ist sie zwischen den Ortschaften Glausche und Reichthal. Ohne auf die Gemeindebezirksgrenzen Rücksicht zu nehmen, führt die neue Landesgrenze schnurgerade durch die Feldmark der Gemeinde Glausche hindurch, als habe man beweisen wollen, daß Landesgrenzen auch mit dem Lineal zu ziehen seien. Einen um so größeren sackartigen Bogen macht aufallenderweise die Grenze südlich anschließend tief in den Kreis Namslau hinein, sorgfältig der Grenze der früheren großen preußischen Staatsdomäne Skorischau folgend, die dadurch ungeschmälert polnischer Staatsbesitz geworden ist. In gleicher Weise wurden polnischer Staatsbesitz die im Reichthaler Ländchen gelegenen preußischen Staatsforsten.

Durch die erwähnte gradlinige Grenzziehung zwischen Glausche und Reichthal werden 45 landwirtschaftliche Besitzungen quer durchschnitten, deren Bewirtschaftung dadurch aufs schwerste beeinträchtigt wird. Von diesen Besitzungen liegen jetzt 320 Hektar in Polen. Um die in Polen gelegenen Ackerstücke betreten zu dürfen, bedarf es für die Besitzer und deren Arbeitskräfte der ständigen Mitführung besonderer Grenzausweise. Die Besitzer müssen ihre Pferde allmonatlich einer Untersuchung durch den beamteten polnischen Tierarzt unterwerfen. Das Rindvieh bedarf ebenfalls derartiger Untersuchungen. Tritt irgendwo im Kreise Namslau eine Viehseuche auf, so schließt sich automatisch die Grenze. Haben die Besitzer wegen ihrer jenseits der Grenze gelegenen Ackerstücke steuerliche oder sonstige Angelegenheiten in Reichthal zu regeln, so sind sie gezwungen, obwohl Reichthal handgreiflich nahe vor ihnen liegt, den einzigen vorhandenen, weit entfernten Grenzübergang zu benutzen, was für sie einen Umweg von 16 Kilometern bedeutet. Alle diese Umstände lassen die betreffenden Landwirte natürlich nie zur Ruhe kommen und machen eine fachgemäße Wirtschaftsführung schlechterdings unmöglich. Von einschneidendster Bedeutung ist die Zerreißung der Besitzungen auch für deren Kreditverhältnisse. Dadurch, daß ihr Areal zum einen Teil im Inland, zum anderen Teil in Polen liegt, ist ihnen die Grundlage für einen ausreichenden Realkredit genommen.

Nicht genug damit, daß das Reichthaler Ländchen dem polnischen Staate zugeschlagen wurde, glaubte Polen noch auf weitere Teile des Kreises Namslau Ansprüche erheben zu dürfen. Infolgedessen wurde der Kreis Namslau von den Interalliierten Mächten als einziger nichtoberschlesischer Kreis mit 13 Gemeinden und 8 Gutsbezirken von 11485 Hektar Fläche und 5547 Einwohnern in das oberschlesische Abstimmungsgebiet einbezogen. Wie unberechtigt diese Maßnahme war, und wie sie auf einer gänzlichen Verkennung der Verhältnisse beruhte, geht klar daraus hervor, daß bei der Abstimmung am 20. März 1921 nicht weniger als 97 1/2 % der Abstimmungsberechtigten im Abstimmungsgebiete des Kreises Namslau trotz des Druckes, unter dem die Abstimmung stand, sich offen für Deutschland bekannten. Die hart an der neuen Landesgrenze und unmittelbar benachbart dem angeblich "polnischen" Reichthaler Ländchen liegende Gemeinde Hennersdorf kann mit Stolz von sich sagen, daß alle Abstimmungsberechtigten der Gemeinde ohne Ausnahme für Deutschland stimmten. Die Erinnerung hieran soll ein von der Gemeinde errichteter Denkstein wacherhalten. Ebenso eindeutig deutsch wäre das Bekenntnis des Reichthaler Ländchens gewesen, hätte man es nicht mundtot gemacht und abstimmungslos nach Polen verschoben.

Durch den Machtspruch von Versailles ist das Reichthaler Ländchen polnisches Staatsgebiet geworden. Was kulturell und wirtschaftlich zusammengehört, trennt heute die neue Grenze. Reichthal, früher im Kreise Namslau ein emporstrebendes wohlhabendes Landstädtchen, verkümmert und stirbt ab. Alte lebensvolle, naturgewiesene Verkehrsbeziehungen sind gewaltsam zerrissen. Den einzigen "offenen" Grenzübergang, die alte Namslau-Reichthal-Kempner Straße, sperrt der Schlagbaum an der neuen Grenze.

Alle Geschichtsquellen und erhalten gebliebenen Urkunden stimmen darin überein, daß der Kreis Namslau in seinem ganzen Umfange, wie er vor der Zerreißung durch das Versailler Diktat bestand, altes deutsches Kolonistenland ist, daß insbesondere auch die Ortschaften im Reichthaler Ländchen deutscher Siedlung ihren Ursprung verdanken, und daß das Reichthaler Ländchen ebenso wie der übrige Teil des Kreises Namslau durch die Jahrhunderte deutsches Gebiet geblieben ist, niemals aber dem Polenreiche zugehört hat. Und wenige Gebiete Schlesiens werden von sich sagen können, daß sie schon so früh dem Deutschen Reiche zugehörig gewesen sind, wie gerade der Namslauer Bezirk.

Polnische Geschichtsschreiber aus dem Mittelalter, unter ihnen Johann Dlugoß. Domherr von Krakau (gest. 1480), haben den Ort Schmograu - gelegen im Kreise Namslau, wenige Kilometer entfernt von Reichthal - als die Wiege des schlesischen Christentums bezeichnet, wo im Jahre 970 die erste Kirche Schlesiens errichtet sei, und wo in der darauf folgenden Zeit mehrere Jahrzehnte hindurch die ersten schlesischen Bischöfe ihren Bischofssitz gehabt hätten. Es geht daraus hervor, daß die Polen im 15. Jahrhundert der Überzeugung waren, daß die Gegend um Namslau und Reichthal bereits um die Wende des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung zu Schlesien gehört hat.

Der Deutsche Orden war es, der an der Kolonisierung des Namslauer Bezirkes besonderen Anteil hatte. Hermann Ball, Prokurator des Deutschen Ordens, verlieh 1233 mit Zustimmung des Herzogs Heinrich I. und des Bischofs Thomas I. von Breslau dem Kaplan Ägidius von Namslau die Gebiete von Lassusino und Bandlo bei Reichthal zur Besiedlung aus Aussetzung "zu deutschem Recht". Die Chronik des Bistums Breslau vom Jahre 1305 berichtet bereits über zahlreiche Orte deutscher Siedlung im Namslauer Bezirke, darunter auch über die Mehrzahl der Orte des Reichthaler Ländchens, wie Droschkau oder Gerhardsdorf, Skorischau, das der Mittelpunkt der Verwaltung des bischöflichen Grundbesitzes im Namslauer Bezirke war und als solcher befestigt wurde, Kreuzendorf, das nach den Kreuzherren vom Deutschen Orden seinen Namen erhielt und 1249 an den Bischof von Breslau abgetreten wurde, weiter über Bandlau, Schadegur, Butschkau und Proschau, und zwar "daß sie deutsche Schultheißen und Pfarrer hatten und vor 1251 zu deutschem Rechte saßen".

Aus der ganzen Geschichte von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart erhellt, daß das Reichthaler Ländchen und der gesamte Kreis Namslau nach Ursprung und Entwicklung deutsches Land sind, und daß Polen in diesem Kreise nie einen Rechtstitel besessen hat. -

Nach der Abtretung des Reichthaler Ländchens an Polen umfaßt der Kreis Namslau heute ein Gebiet von 50 460 Hektar mit der Kreisstadt Namslau, 56 Landgemeinden und 45 Gutsbezirken mit insgesamt 31036 Einwohnern. Die Kreisstadt Namslau ist eine der ältesten germanischen Siedlungen auf schleslschem Boden. Gegründet wahrscheinlich um das Jahr 1040 während der Zugehörigkeit Schlesiens zu Böhmen, kommt der an der Handelsstraße von Breslau nach Krakau gelegene Ort bald zu hoher wirtschaftlicher Blüte und hat sogar vorübergehend eigenes Münzrecht. Kaiser Karl IV., der wiederholt hier weilte, die günstige Lage und die Bedeutung der Stadt erkannte, ließ sie stark befestigen. Allen Kämpfen und Stürmen in dem großen Ringen zwischen Germanen- und Slawentum trotzte die von ihm errichtete Stadtmauer. Bis auf den heutigen Tag sind ihre Reste, an vielen Stellen als Doppelmauer, erhalten. Zahlreiche andere alte Bauten legen Zeugnis ab von der früheren Blüte und Bedeutung der Stadt. So das aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammende Rathaus, dessen in neuester Zeit erfolgter Umbau den Charakter des herrlichen Bauwerks nicht beeinträchtigt hat, das zusammen mit den alten Giebelhäusern des Ringes ein reizvolles Städtebild bietet. Als das schönste Bauwerk der Stadt und zugleich als eine der schönsten Kirchen Schlesiens darf die in gotischem Stil erbaute katholische Kirche angesprochen weiden, die in der Zeit von 1400-1450 errichtet wurde. An den Deutschen Orden erinnert das etwa aus dem Jahre 1360 stammende Stadtschloß, das in späterer Zeit Residenz eines Komturs war. In der Nähe des Stadtschlosses steht die Ruine des ältesten Bauwerks der Stadt, des bereits 1285 von Minoriten bewohnten und bis 1810 den Franziskanern gehörenden Klosters. In.der. Kreisstadt befindet sich eine große Brauerei und eine Anzahl kleinerer Industrien. Im übrigen hat der Kreis rein landwirt-schaftlichen Charakter. Es wechseln Ackerbau und Waldbau in bunter Mischung. Auf Acker und Wiesen entfallen etwa 3/4, auf Waldungen etwa 1/4 der Gesamtfläche. Die Bodenbeschaffenheit im Kreise ist nicht einheitlich. Neben guten und mittleren Böden, die etwa die Hälfte der Fläche ausmachen, hat er zur anderen Hälfte geringere, leichte Böden, die aber bei guter Bewirtschaftung gleichfalls durchaus ertragbringend sind. Zwar ohne Berge, aber doch mit einigen Erhebungen und im ganzen wellig, bietet der Kreis, zumal in seinem südlichen Teile, bei dem steten Wechsel von Acker, Niesen, Gehölzen und Forsten immer neue reizvolle Landschaftsbilder. In diesem südlichen Teile ist auch in waldreicher Umgebung das Schloß Minkowsky gelegen, das Friedrich der Große dem Reitergeneral von Seydlitz als Ruhesitz erbauen ließ als Dank für die dem preußischen Staate geleisteten Dienste. Im Parke des Schlosses schmückt, beschattet von alten Baumriesen, ein von Efeu überwuchertes Grabdenkmal die Stelle, wo der alte Reitergenera! zur Ruhe bestattet liegt.

Durchflossen wird der Kreis von dem Stober und der Weide, zwei kleinen zur Oder strebenden Flüßchen, von denen die Weide, mit der Landschaft des Spreewaldes vergleichbar, bis an die Stadt Namslau heran einen umfangreichen Bruch.bildet, der nicht nur der Stadt zum Schmucke gereicht, sondern auch einladet zur Erholung bei Ruderfahrten und sommerlichem Baden. Die Niederungen dieser beiden Flüßchen, die größtenteils noch der Regulierung harren, leiden bei dem geringen Gefälle und den vielen Mühlenstauen häufig unter ausgedehnten Ausuferungen, die der Landeskultur in hohem Maße schädlich sind. An landwirtschaftlichen Betrieben überwiegt im Kreise Namslau der Großgrundbesitz, der etwa 6l) Prozent der Fläche umfaßt. Der Rest von 4l0 Prozent verteilt sich auf bäuerliche Wirtschaften und Kleinbesitz. Es befinden sich im Kreise auch einige größere Teichwirtschaften, die nach neuzeitlichen Methoden die Fischzucht betreiben, welche ansehnliche Erträge an Nutzfischen, insbesondere an Karpfen, bringt, die zumeist als Weihnachtskarpfen den städtischen Märkten zugeführt werden. Durch ihren Krebsreichtum bekannt war früher mit ihren Zuflüssen die Neide, Leider haben Seuchen die Krebsbestände fast völlig vernichtet.

Schon von Natur benachteiligt durch das wenig günstige Klima der rechten Oderseite, das auch bei sonst gleichen Bedingungen ähnliche Bodenerträge, wie sie die Kreise auf der linken Oderseite aufzuweisen haben, nicht aufkommen läßt, ist der Kreis Namslau auch von jeher durch seine Verkehrslage in der allgemeinen Entwicklung gehemmt gewesen. Ihm fehlt insbesondere die Eisenbahnverbindung nach Brieg, die ihn nicht nur auf dem kürzesten Wege mit der Oderwasserstraße und der Haupteisenbahnstrecke Oberschlesien-Breslau-Berlin, sondern auch mit dem Inneren von Schlesien und mit dessen Süd- und Westteil in unmittelbare Verbindung bringen würde. Überhaupt hat die ganze rechte Oderseite, wie ein Blick auf die Karte erkennen läßt, hinsichtlich der Ausgestaltung des Eisenbahnnetzes eine außerordentlich stiefmütterliche Behandlung erfahren. Selbst im Vergleich zu den früheren Provinzen Westpreußen und Posen ist das Eisenbahnnetz in den mittelschlesischen Kreisen der rechten Oderleite ein höchst dürftiges.

In schwerster Weise ist der Kreis Namslau durch den Versiailler Vertrag verstümmelt und in seiner Entwicklung zurückgeschleudert worden. Durch die Abtretung des Reichthaler Ländchens sind ihm nahezu 1/6 der Kreisfläche und etwa ebensoviel an Einwohnern verloren gegangen. Einen großen Teil der Steuerlast hat der Kreis dadurch eingebüßt. Nicht weniger schlimm sind die allgemeinen Folgen der neuen Grenzziehung, die ohne Rücksicht auf Verkehrs- und Wirtschaftszusammenhänge Gebiete zerriß, die von alters her zusammengehörig, wirtschaftlich aufeinander angewiesen sind und als Absatz- und Bezugsgebiete sich einander ergänzten.

Rege Wirtschaftsbeziehungen hatte der Kreis Namslau früher zur Provinz Posen, mit welcher er durch die Eisenbahnlinie Namslau-Reichthal-Kempen-Ostrowo-Posen unmittelbar verbunden war. Durch die Abtretung der Provinz Posen ist dem Kreise Namslau nach Osten das gesamte Hinterland verloren gegangen. Die genannte Bahnlinie läuft sich jetzt an der neuen Grenze tot. Schwerste Schädigungen hat für den Kreis Namslau auch die Gestaltung der Verhältnisse in Oberschlesien zur Folge gehabt. Von jeher war der durch den Versailler Vertrag polnisch gewordene ostoberschlesische Industriebezirk wegen seiner frachtgünstigen Lage und seiner Aufnahmefähigkeit das hauptsächlichste Absatzgebiet für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Namslauer Kreises, der umgekehrt auch seinen Bedarf an Kohle und Industrieerzeugnissen aus ebendiesem Gebiete deckte. Dieses wichtigen Absatz- und Bezugsgebietes ist der Kreis Namslau durch die neue Grenzziehung verlustig gegangen. Aber auch der Industriebezirk des bei Deutschland gebliebenen Westoberschlesiens ist dem Kreise Namslau als Absatzgebiet verloren gegangen durch die Bestimmung des Genfer Abkommens, wonach 15 Jahre lang landwirtschaftliche Erzeugnisse aus Polnisch-Ostoberschlesien nach Deutsch-Westoberschlesien zollfrei eingeführt werden dürfen. Der beste Beweis ist die Tatsache, daß die Bahnstrecke Namslau- Kreuzburg, auf welcher früher fast alle Erzeugnisse des Namslauer Kreises nach Oberschlesien verfrachtet wurden, von solchen Frachten heute völlig entblößt ist.

Infolge des Verlustes seiner wichtigsten Absatzgebiete ist der Kreis Namslau gezwungen, sich wirtschaftlich anders zu orientieren. Welche Schädigungen damit auf Jahre hinaus für seine gesamte Wirtschaft verbunden fein müssen, leuchtet ohne weiteres ein. Will nicht der Kreis Namslau in seiner jetzigen isolierten Lage verkümmern, muß er mit allen Mitteln danach trachten, daß mit größter Beschleunigung der Bau der Eisenbahnlinie Namslau-Brieg zur Durchführung gelangt, die bereits seit Jahrzehnten erstrebt wurde, heute aber unter den veränderten Verhältnissen nach dem übereinstimmenden Urteil aller Wirtschaftskreise geradezu eine Lebensnotwendigkeit für den Kreis Namslau geworden ist. Wie die Verhältnisse liegen, kann für den Verlust des östlichen Hinterlandes und den Verlust von Oberschlesien als Absatzgebiet dem Kreise Namslau ein teilweiser Ausgleich nur dadurch geschaffen werden, daß er durch eine Eisenbahnlinie mit Brieg verbunden wird, die ihm den Anschluß an die innerschlesische Wirtschaft bringen würde. Von gleicher Dringlichkeit ist der Bau einer Bahnlinie von Neumittelwalde über Groß-Wartenberg nach Namslau, die den durch die neue Grenzziehung am meisten geschädigten unmittelbaren Grenzbezirken der Kreise Groß-Wartenberg und Namslau einen Ersatz für die abgeschnittenen Bahnen und Chausseen geben und ihnen den notwendigen wirtschaftlichen Rückhalt bieten soll. Auch diese Bahn, deren Bau gleichfalls schon seit langer Zeit gefordert war, ist unbedingt erforderlich, um dem Grenzgebiete die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit zu erhalten. Es ist dringend zu hoffen, daß die Verhandlungen im Reichstage über den Bau der Bahnlinie Brieg-Namslau-Groß-Wartenberg-Neumittelwalde als durchgehende Strecke bald zu einem positiven Ergebnis führen werden.

Eine schwere und nicht weiter aufschiebbare Aufgabe ist es für den Kreis, das durch die neue Grenzziehung zerrissene Straßennetz wiederherzustellen. Von den vier durch die neue Grenzziehung abgeschnittenen Straßen liegen drei in der nunmehr zu Polen gehörigen Stadt Reichthal zusammen. Es ist unumgänglich, diese Straßen auf deutschem Gebiet durch Querstraßen wieder untereinander zu verbinden.

Ein weiteres brennendes Problem ist die große Wohnungsnot in Stadt und Land. Seit sich das Schicksal der abgetretenen Gebiete entschieden, findet aus diesen ein fortgesetzter Zuzug von Familien statt, die teils gezwungen, teils freiwillig über die Grenze abwandern, um sich im hiesigen Kreise, möglichst nahe ihrer bisherigen Heimat, Existenz und Unterkunft zu suchen. Die allgemeine Wohnungsnot hat dadurch eine starke Verschärfung erfahren. Von großer Wichtigkeit ist ferner auch die Förderung des Baues von Landarbeiterwohnungen zwecks Heranziehung und Seßhaftmachung deutscher Arbeitskräfte an Stelle der ausländischen Saisonarbeiter, die immer noch in einer großen Zahl von landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt werden.

Eine gleichfalls auf die neue Grenzziehung zurückzuführende Erscheinung ist die außerordentliche Kreditnot im hiesigen Grenzgebiete, unter welcher Landwirtschaft, Handel und Gewerbe, die namentlich wegen der Verschlechterung der Verkehrslage und des Verlustes von Hinterland und Absatzgebieten ohnehin hier mehr als anderwärts um ihre Existenz zu kämpfen haben, in gleichem Maße leiden. Die Geldgeber kennen die Not des Grenzlandes und die sich auf allen Gebieten auswirkenden Folgen der neuen Grenzziehung und ziehen es deshalb vor, das Grenzgebiet zu meiden. Soweit in die Grenzkreise überhaupt Kredite gegeben weiden, geschieht es unter größter Zurückhaltung und erschwerten Bedingungen.

Nachdem der Kreis Namslau durch die neue Grenzziehung unmittelbare Grenzmark geworden ist, hat auch die Siedlungsfrage für ihn hohe Bedeutung gewonnen. Die Bevölkerungsbewegung im Kreise Namslau in den vergangenen Jahrzehnten ist eine wenig günstige gewesen. Der Kreis zählte 1871 - 37 319, 1890 - 36 603, 1900 - 34 548, 1910 = 33 452 und 1925 (allerdings nach Verlust von 5000 Einw. des Reichthaler Ländchens) = 31036 Einw. Die Bevölkerungsdichte beträgt nur 60 Einw. auf das Quadratkilometer gegenüber einem Durchschnitt von 124 für Schlesien und von 130 für Preußen. Unter diesen Umständen erscheint eine Vermehrung der Bevölkerung und der selbständigen Existenzen durch Schaffung neuer Bauernstellen dringend geboten. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß eine gesunde Siedlung das geeignete Mittel ist, den Grenzbezirken die nötige innere Festigkeit und eine erhöhte Widerstandkraft nach außen zu geben. Voraussetzung für eine gesunde Siedlung ist aber wiederum das Vorhandensein guter Verkehrswege, insbesondere von Eisenbahnlinien nach dem Innern des Landes, die auch deshalb notwendig slnd, um dem Grenzgebiete die Unterhaltung lebensvoller Beziehungen zum Landesinnern zu ermöglichen. Diese Bedeutung hat für die Kreise Groß-Wartenberg und Namslau die schon mehrgenannte Bahnlinie Brieg-Namslau-Groß-Wartenberg- Neumittelwalde.

Von größter Wichtigkeit für die Landeskultur wäre eine durchgreifende Regulierung des Stobers und der Weide. Durch Meliorierung könnten in beiden Niederungen große Flächen jetzt minderwertiger Äcker und Wiesen in ertragsfähiges Kulturland verwandelt werden.

Auf kulturellem Gebiete ist eine Verbesserung des Bildungswesens zu fordern, und es erscheint der Wunsch berechtigt, daß wenigstens die Kreisstadt eine höhere Schule erhält. Die in Namslau bestehenden "gehobenen Klassen", die bis zur Untersekunda einschließlich führen, können dem Bedürfnis unseres Grenzkreises nicht mehr genügen. Größtes Gewicht muß auch darauf gelegt werden, das Volkschulwesen in den Grenzgebieten vorbildlich zu gestalten. Die Schulgebäude müßten von bester Beschaffenheit sein, und die bewährtesten Lehrkräfte waren hier am Platze. Hierzu müssen kommen die Darbietung geeigneten Lesestoffs in Volksbüchereien, die Veranstaltung von guten Theatervorführungen, Konzerten und Vorträgen, und nicht zuletzt die Pflege von Leibesübungen, Sport und Spiel. Auch in ihren sonstigen Zweigen haben Jugendpflege und Wohlfahrtspflege ihre besondere Bedeutung hier im neuen Grenzgebiete.

Allen diesen Nöten und Sorgen eines durch den Versaillei Vertrag schwer geschädigten Grenzkreises hat sich neuerdings eine weitere äußerst ernste Sorge zugesellt. Von dem Reichswehrministerium wird ernsthaft erwogen, der Kreisstadt unseres Grenzkreises die hier seit über 120 Jahren bestehende Garnison zu nehmen. Alle Gegenvorstellungen der Behörden, von Kreistag und Stadtverordnetenversammlung und alle dringenden Proteste der gesamten Bevölkerung aus Stadt und Land ohne Unterschied des Standes und der Partei haben bisher dieses Damoklesschwert nicht von unserem Grenzlande zu nehmen vermocht. Von niemand wird es verstanden, daß unserem unter dem schweren Drucke der Grenzlandnot stehenden, um seine Existenz ringenden Grenzgebiet ein solch neuer Schlag und ein Schaden zugefügt werden soll, der nicht wieder gutzumachen ist. Daß in einem notleidenden Grenzgebiet das Vorhandensein einer Reichswehrgarnison einen wirtschaftlichen, finanziellen, kulturellen, nationalen und moralischen Faktor ersten Ranges darstellt, ist ohne weiteres einleuchtend.

Der Kreis Namslau hat durch die neue Grenzziehung in seiner Entwicklung und Leistungsfähigkeit schwerste Einbuße erlitten. Gleichwohl wird er mit allen Kräften trachten, den Aufgaben gerecht zu werden, die er als Grenzmark zu erfüllen hat. Er zählt dabei auf weitgehende Unterstützung durch Reich und Staat, die hier ernste Pflichten haben. Deutsch, wie er stets gewesen, wird der Kreis Namslau bleiben, und weiter brennen wird die ihm geschlagene schwere Wunde:--------Reichthal, von alters her dem Kreise Namslau zugehörig, kerndeutsches Land.

Quelle: "Die blutende Grenze Niederschlesiens" Sonderdruck aus der Heimatzeitschrift "Wir Schlesier" Nr.7 von 1.Januar 1929