Von Auguste Golibrzuch aus Strehlitz
Als wir nach der Flucht in Bärringen (sudetendeutscher Ort im Erzgebirge, in der
Nähe von Karlsbad) waren, kam am 8. Mai 1945 der Befehl: Alle Deutschen und Ausländer
haben binnen 48 Stunden Bärringen zu verlassen. Mein Mann hatte hier im Bahnhof
Dienst als Weichenwärter getan und uns hergeholt, nachdem er uns im März
durchs Rote Kreuz gefunden hatte. Aber die Wiedersehensfreude war kurz. Dann mußte
er mit 20 anderen Beamten nach Pilsen, und so waren wir wieder allein, als der Räumungsbefehl
für die Deutschen kam. Wir packten unser Bündel ohne meinen Mann. Mit zwei
anderen Eisenbahnerfamilien aus Hindenburg und aus Kreuzburg bat ich den Bahnhofsvorsteher
um einen Wagen, und so ging es aus Bärringen los. Abends um 9 Uhr waren wir auf
deutschem Boden. Wir hielten mit unserem Fahrzeug etwas abseits vom Bahnhof. Aber wir
hatten nur kurze Zeit Ruhe, dann kamen die Räuber und plünderten. Ebenso
war es in Dresden: Kaum hatten wir unsere Sachen am Bahnhof abgestellt, da wurden sie
uns gestohlen. Der Warteraum lag voller aufgeschlitzter Koffer. Ohne unsere Habe konnten
wir nicht weiterfahren. Deshalb fuhren wir mit dem nächsten Zug ins Lager Freiberg.
Dort blieben wir bis zum 8. Juli 1945.
An diesem Tag kamen Eisenbahner und Postbeamte ins Lager und sagten: "Wer mit
nach Hause möchte und einen Ausweis hat, kann mit uns fahren." Ich hatte
einen Ausweis. Die Eisenbahner wollten nach Oppeln fahren und machten sich eine Lok
zurecht. Aber die Russen nahmen sie ihnen weg. Erst mit der dritten Lok, die die Eisenbahner
repariert hatten, kamen wir nach Kohlfurt. Dort standen wir 14 Tage lang im Wald. Da
kamen wieder die Räuber, rissen die Türen auf und warfen die Koffer runter.
Ein beherzter Pastor hatte eine Waffe und schoß, bis die Räuber flohen.
Sie kamen aber wieder und suchten den Pastor; der aber hatte den Wagen gewechselt und
sich versteckt. Wir bangten um unser Leben. Mein Sohn hatte die zerschlagenen Fenster
des Wagens mit Brettern und Blech zugenagelt. Nachts, wenn die Räuber kamen, banden
wir die Türen mit Stricken zu.
Mit mir zusammen fuhr Frau Daliger, die Frau des Namslauer Bahninspektors und ihre
Schwester mit deren 14 Jahre altem Sohn. Endlich fuhr unser Zug weiter bis nach Brockau.
Dort blieb erstehen. Wir mußten aussteigen, weil von dort an die Gleise kleiner
waren. Wir wurden in offene Güterwagen verladen. Da ging auch das Räubern
wieder los. Der Zug fuhr ab, noch ehe alle eingestiegen waren. Auch unsere Sachen waren
nur teilweise verladen. Mein Sohn sprang schnell auf den fahrenden Zug. Viele Leute
fielen hin in den Gleisen und die russischen Eisenbahner fluchten und traten sie mit
den Füßen. Wir Zurückgebliebenen sammelten unsere Sachen in einen kleinen
Handwagen und stellten sie bei Gutsleuten ein. Man sagte uns, dort seien sie gut aufgehoben.
Nun ging es zu Fuß nach Hause; wir liefen fünf Tage lang. Schwach und
müde erreichten wir endlich Namslau. Überall sahen wir hier fremdes Volk.
Nichts gab es zu essen. Die Nacht davor hatten wir Rast im Straßengraben gemacht.
Mit uns waren Frauen mit Kinderwagen. Die waren aus Kreuzburg. Eine von ihnen sagte:
"In Strehlitz habe ich einen Onkel, da bleiben wir über Nacht." Aber
in Stehlitz war kein Onkel mehr da. Wir zogen weiter nach Reichen. Dort sahen wir Deutsche
in einem Hof. Eine Frau kam uns entgegen und frug, wohin wir wollten. Als ich ihr meinen
Namen nannte, sagte sie: "Ich kenne Ihren Mann. Die Russen haben in Strehlitz
viele Leute erschossen, auch Ihren Sohn. Er liegt in einem Bunker." Ich dachte,
ich bekomme einen Schlag. Ich sagte: "Das stimmt nicht, das kann doch nicht stimmen."
- Die Frau lud uns ein, sie hatte noch etwas Suppe für uns.
Wir kamen nach Noldau. Da kamen uns wieder Deutsche entgegen. Wir sahen den verbrannten
Bahnhof und das Stellwerk, wo mein Mann immer Dienst getan hatte. Dort hatte ich ihm
immer das Essen hingetragen. Auch Assmann, die Post und das Gut waren zerschossen.
Wohin sollten wir? Überall Russen und Polen! Das hätte ich mir nie träumen
lassen. Da kam uns die Luzie Pocha entgegen. "Von wo kommt ihr? Bei euch sind
Polen im Haus; da könnt ihr nicht rein. Kommt zu uns. Da sind auch schon andere
Deutsche." Ich hatte Tränen in den Augen, als ich in die Stube eintrat. Das
erste, was man mir hier sagte, war: "Wissen Sie schon, daß Ihr Sohn Martin
tot ist? Dort im Bunker bei Mallok im Felde, da liegen sie alle, Martin, Rapke und
Henschel. Gleich am Sonntag um 10 Uhr kamen die Russen von Hennersdorf herüber,
und überall haben sie die Menschen erschossen. Wir sind übriggeblieben; wir
mußten ihnen Essen kochen, und bei uns haben sie geschlafen."
Ich sah dann die Toten liegen, mit Kartoffelkraut und einer Stalltür bedeckt.
33 Deutsche, Männer und Frauen - der jüngste, Alfons Strußik, war 17,
die älteste, Frau Herrmann, war über 80 Jahre alt - wurden hier am 21. Januar
1945 wahllos niedergeschossen. Ich habe die Namen aller dieser erschossenen Deutschen
notiert. Ich brach in Tränen aus, als ich das Grab sah; ich ging weg; ich war
völlig fertig. Das hatte ich nicht erwartet, daß uns die Heimat so empfing!
Das Haus von Frau Pocha war mit 21 Deutschen belegt. Wir mußten auf dem Fußboden
schlafen. Am nächsten Morgen versuchte ich mein Glück beim polnischen Gemeindevorsteher,
ob ich nicht in mein Haus hineindurfte. Da bekam ich zu Antwort: "Verfluchtes
Gesindel, macht daß ihr rauskommt. Ihr hier nichts zu suchen!" - Bis Ende
September mußten wir bei Frau Pocha bleiben und auf dem Fußboden schlafen.
Dann wurde auch Frau Pocha aus ihrem Hause rausgesetzt, und eine polnische Familiezog
ein. Alle, die bei Frau Pocha gewohnt hatten, mußten zum Gut Bennecke ziehen.
Dort blieben sie bis zum 26. Oktober 1945. An diesem Tage wurde ein Teil weggefahren.
Die übrigen wurden einen Monat später in offene Viehwagen verladen und abtransportiert.
Am 9. November zogen die Russen ab. Sie nahmen alles, was noch da war, mit; kein
Pferd, keine Kuh, kein Geflügel blieb zurück. Nur ein wenig Getreide hatten
die Russen vergessen, das wir dreschen konnten. Ich war acht Wochen lang ohne etwas
zu essen, kein Brot, keine Mohrrüben, keine Kartoffeln. Solange mein 16 Jahre
alter Sohn (der Bruder des ermordeten Sohnes Martin) bei den Russen gearbeitet hatte,
hatte er von ihnen mittags ein Krügelchen Suppe und 600 Gramm Brot bekommen. Das
teilte er mit uns.
Nachdem die Russen abgezogen waren, bekamen wir von den Polen ein Zimmer bei Herrn
Rapke, dem Bienenzüchter. Dort wohnten anständige Polen. Die gaben mir ein
Stückchen Garten und Arbeit. Viel verdient haben wir nicht, denn der Pole hatte
selbst auch nichts. Als 1946 die Kartoffeln und das Getreide wuchsen, da hatten wir
auch wieder etwas zu essen. Aber ehe das reifte, mußten wir wieder alles verlassen.
Nachdem ich mich von den Strapazen des Winters etwas erholt hatte, machte ich den
Versuch, nach Oppeln-Ehrenfeld zu fahren, wo mein Sohn unsere Sachen untergestellt
hatte. Ich ging fünf Tage lang zu Fuß nach Oppeln. Als ich das Ziel erreichte,
stand die Tür des Hauses offen, und es war leer. Unsere Sachen waren alle weg.
Herr S., bei dem mein Sohn unsere Sachen untergestellt hatte, hatte versprochen, sie
im Nachbardorf unterzustellen, wenn er nach Westdeutschland fortgehen würde. Aber
von der Nachbarin erfuhren wir, daß Frau S. mit ihrer Tochter immer am Mittwoch
und am Sonnabend nach Oppeln zum Markt gegangen war und unsere Sachen mitgenommen und
verkauft hatte. Nun hatten wir nur noch das, was wir auf dem Leibe hatten. Alles andere
war uns von Russen, Polen und auch von Deutschen gestohlen und geraubt worden.
Im Februar 1946 hatte uns Pastor Schönfeld aus Kreuzburg besucht. Wir baten
ihn, er möge bei den polnischen Behörden um Erlaubnis bitten, daß er
uns einen evangelischen Gottesdienst halten darf. Wir lebten doch wie die Heiden. Er
bekam zwar die Erlaubnis, doch ehe der Gottesdienst beginnen konnte und sich das Tor
unserer Kirche wieder öffnete, warfen die Polen Steine und Dreck ins Gotteshaus
und verrammelten die Kirchentür. Wir stiegen durchs Fenster in die Kirche zum
Gottesdienst. Die Kirchenbänke hatten die Polen aus der Kirche herausgenommen
und auf die Wiese geschmissen. Als wir zu Ostern über die Straße zum Gottesdienst
gingen, liefen die Polen mit Eimern voll Wasser hinter uns her und begossen uns. So
mußten wir auf Umwegen über die Felder zum Gottesdienst gehen. Alle 14 Tage
hatten wir Gottesdienst. Dazwischen war in Hennersdorf Gottesdienst.
Auch unseren Toten ließen die Polen keine Ruhe. Die Grabsteine wurden umgeworfen.
Der Leichenwagen wurde als Mistwagen benutzt. Die Leichenhalle wurde zerstört.
Wir hatten erlebt, wie man Menschen wie Vieh über den Haufen schoß, wie
man Haus, Hof und Vieh raubte, plünderte und stahl. Wir hatten Häuser brennen
gesehen. Wir hatten die Lust am Leben verloren. Wir sagten uns, wir müßten
wieder weg von dort. So hatte auch ich mich zu Pfingsten 1946 zur Ausreise fertiggemacht.
Aber die anderen Deutschen sagten zu mir: "Wenn die Polen das sehen, daß
wir rausgehen, dann gehen sie gar nicht mehr fort aus unserer Heimat. Dann sagen sie,
das gehört jetzt uns. Wir bleiben, bis uns die Polen mit Gewalt raustreiben."
So blieb auch ich da.
Aber es dauerte nicht lange, da wurde Wahrheit, was wir befürchtet hatten.
Die Polen trieben die restlichen Deutschen, die noch in Noldau geblieben waren, zusammen,
verluden uns wie das Vieh auf Viehwagen und brachten uns um Mitternacht nach Namslau
zur Sammelstelle. Am 26. Oktober 1946 wurden wir - wieder in Viehwagen -abtransportiert.
Wir fuhren in Namslau mit dem Lied "Nun ade, du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland,
ade" ab. Dann gedachten wir der Toten, die wir in der Heimat zurückgelassen
hatten. Von uns gemeinsam zurückgekehrten Landsleuten waren in dem einen Jahr,
das ich in Noldau lebte, elf gestorben, davon drei von Polen erschlagen, drei an Unterernährung
gestorben. Ich habe die Namen all dieser lieben Landsleute notiert. Wir kamen in der
Gegend von Berlin ins Lager.
8 Fundstelle: Namslauer Heimatruf Nr. 71/72, S. 7
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