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Im Herbst 1944 begannen die Grenzbefestigungsarbeiten
des "Unternehmens Barthold". Zu diesen Arbeiten wurde die Bevölkerung
in stärkstem Maße herangezogen. Die Front im Osten näherte sich in
den letzten Monaten des Jahres 1944 immer mehr den schlesischen Grenzen. Über
die daraus entstehende Gefahr wurde aber die Bevölkerung nicht informiert. Ja,
die Kreisleitung der NSDAP verhinderte bewußtjede Information. Erst auf wiederholtes
Drängen des stellvertretenden Landrats, Kreisdeputierten Frauenholz, wurde MitteJanuar1945
eine Versammlung der Bürgermeisterdes Kreises und der politischen Leiter in das
Hotel am Stadttor, Gasthaus Stojan, in Namslau einberufen. In dieser Versammlung wurde
nach dem Hinweis des Kreisleiters Fischer, daß die militärische Lage nicht
besorgniserregend sei, der Räumungsplan für den Ernstfall bekanntgegeben.
Akten und amtliche Unterlagen wurden aus Namslau nicht verlagert. Eine Ausnahme bildete
die Kreis- und Stadtsparkasse, die ihre Kontenblätter mit einem Pferdegespann
am 19. Januar 1945 (Tag der befohlenen Räumung) fortbrachte. Diese Unterlagen
blieben später in Luditz (Sudetenland) liegen.
Am 19. Januar 1945 um 15.00 Uhr sprach der Kreisleiter auf dem Ring der Stadt Namslau
zu der durch die Flüchtlingstrecks aus den östlichen Kreisen Schlesiens und
aus dem südlichen Wartheland sowie die zurückgehenden Wehrmachtskolonnen
beunruhigten Stadtbevölkerung. Er brachte zum Ausdruck, daß kein Grund zur
Beunruhigung vorhanden wäre, da er Informationen von höheren Stellen erhalten
habe, wonach sich die militärische Lage geklärt hätte. Es war aber eine
Beruhigung der Bevölkerung nicht mehr möglich, da bereits in einer Entfernung
von etwa 15 Kilometern von Namslau russische Panzerspitzen gesichtet worden waren.
Zwei Stunden nach der Rede des Kreisleiters, etwa um 17.00 Uhr, wurde dann durch die
Kreisleitung der NSDAP dervom Reichsverteidigungskommissar, Gauleiter Hanke, erteilte
Räumungsbefehl bekanntgegeben.
Die Bevölkerung sollte von den Bauern aus den einzelnen
Dörfern mitgenommen werden. Jedoch klappte es hierbei nicht, da die Frist zu kurz
war. Die Stadtbevölkerung wartete vergeblich auf die Gespanne. Ein Teil der Bevölkerung
wurde von den zurückgehenden Wehrmachtsfahrzeugen mitgenommen. Der Treck des Dorfes
Glausche konnte, nachdem er zusammengestellt war, nicht abfahren, da inzwischen russische
Panzer am Bahnhof Glausche (Strecke Namslau-Groß Wartenberg) eingetroffen waren
und die Straße nach Namslau blockierten. Am Morgen des 20. Januar 1945 verschwanden
die Panzer wieder, und die befohlene Räumung konnte durchgeführt werden.
In dieser Nacht wurden viele Einwohner und russische, polnische und italienische Zivilarbeiter
der Verteidungsstellung Barthold durch Maschinengewehrfeuer getötet bzw. verwundet.
Im Dorf Ordenstal wurde der Kommandeur des Volkssturmbataillons Landeshut/Schles. erschossen.
Er hatte die russischen Panzer mit deutschen verwechselt. Der Nachbarort Hennersdorf
wurde von den um sich schießenden Panzern in schneller Fahrt durcheilt. Auch
hier waren Tote und Verwundete zu beklagen.
Der Landrat des Kreises Namslau, Dr. Heinrich, war bei der Wehrmacht. Am 19. Januar
1945 traf er, von einem militärischen Lehrgang kommend, in Namslau ein. Es war
ein Glück für die Stadtbevölkerung. Dr. Heinrich war auf eigene Verantwortung
(nicht zur genehmigten behördlichen Dienstleistung) nach Namslau gefahren, um
zu helfen, da die Nachrichten, die er erhalten hatte, zu den größten Befürchtungen
Anlaß gaben. Durch sein Eintreten bei den höheren Dienststellen des Staates
und der Reichsbahn wurden Züge zur Fortbeförderung der Bevölkerung gestellt.
In kurzen Abständen verließen diese Züge die Stadt. Große Teile
der Bevölkerung wurden dadurch aus Namslau und den nahegelegenen Dörfern
fortgeschafft 2).
Der Auffangkreis für Namslau war Landeshut/Schles. Die Unterbringung konnte zufriedenstellend
geregelt werden ...
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Stadt und der Kreis Namslau fast
vollkommen geräumt wurden. Nur eine geringe Anzahl der Bevölkerung war zurück
geblieben. Es handelt sich hier zum größten Teil um alte Leute, die ihre
Heimat nicht verließen. Das kleine Lager der russischen Kriegsgefangenen war
schon vor dem 19. Januar 1945 verlegt worden. Die Evakuierten aus dem Westen und auch
die westlichen Kriegsgefangenen, fast ausschließlich Franzosen, verließen
den Kreis zusammen mit der Bevölkerung.
Die Räumung des Kreises von Wirtschaftsgütern, die der Landrat versuchte,
scheiterte, da Transportmittel nicht zu erreichen waren.
Etwa drei Wochen war die Bevölkerung in Landeshut, als die Räumung des Kreises
Landeshut von Fremden angeordnet wurde. Die Bevölkerung des Kreises Namslau mußte
sich nach dem Kreis Luditz/Sudetenland (in der Nähe von Karlsbad) begeben.
In Luditz machte die Unterbringung größte Schwierigkeiten, da auch andere
Kreise zugewiesen waren. Die ankommenden Namslauer wurden in dem Flüchtlingslager
in der Bürgerschule untergebracht und mußten dort wochenlang bleiben. Die
Verpflegung und die sanitären Verhältnisse in diesem Lager waren unter aller
Würde. Erst den wiederholten Vorstellungen des Leiters des Büros Namslau,
Kreisoberinspektor König, und des Kreisbauernführers Seidel bei den zuständigen
Stellen und dem Eintreten des Landrats von Luditz gelang die Unterbringung der Namslauer
in Wohnungen.
Das Verhältnis mit der Bevölkerung in Stadt und Kreis Luditz war wirklich
gut. Leider machte sich bald eine Verknappung der Lebensmittel bemerkbar, da der Nachschub
ausblieb.
Nach der Kapitulation erschien ein Auto mit fünf amerikanischen Soldaten und einem
Offizier. Diese blieben aber nur wenige Stunden in der Stadt und kamen täglich
für kurze Zeit wieder. Einige Tage später erhielt Luditz eine russische Abteilung
als Besatzung. Nun begannen die Leiden der Bevölkerung, wobei es keinen Unterschied
zwischen Einheimischen und Flüchtlingen gab. Die russischen Soldaten gaben weder
am Tage noch in der Nacht Ruhe. Junge Mädchen und Frauen durften sich nicht auf
der Straße sehen lassen und hielten sich versteckt, da sie auch in ihrer Wohnung
nicht sicher waren.
Inzwischen waren tschechische Gendarmen, Miliz und zivile Verwaltungsbeamte eingetroffen.
Die Haussuchungen und Verhaftungen rissen jetzt nicht ab. Hierbei kamen aber die Flüchtlinge
noch verhältnismäßig gut davon. Die Verhafteten wurden nach dem Verhör,
meist mit einem großen Hakenkreuz auf dem Rücken, in die tschechische Schule
in der Nähe des Landratsamtes (in dem ich seinerzeit arbeitete) gebracht. Die
Einlieferung und Bewachung erfolgte durch die Miliz (in deutscher Afrikauniform). Die
Behandlung in diesem Kerker war furchtbar, die Schreie waren bis an meinen Arbeitsplatz
(etwa 50 Meter entfernt) zu hören. Auch bin ich wiederholt blaugeschlagenen Männern
begegnet, die sich nur mit fremder Hilfe fortbewegen konnten 3).
Nach der Übernahme des Sudetenlandes durch die Tschechen wurden die Städte
und Dörfer von den dort befindlichen Flüchtlingen geräumt. Die Vertriebenen
machten sich, gestützt auf die Veröffentlichungen der Siegermächte,
wonach die Verwaltungsgrenzen Deutschlands diejenigen des Jahres1937 bleiben, auf den
Weg in die Heimat. Ich schloß mich am 7. Juni 1945 einem Treck von etwa 300 Personen
mit 16 Pferdegespannen an. Von der tschechischen Treckstelle war angeordnet worden,
daß der Treck vor der Stadt auffahren sollte, um die Treckausweise zu erhalten.
Als wir dort aufgefahren waren, wurden wir auf einem in der Nähe liegenden Platz
zusammengetrieben und von der Miliz umstellt. Es durfte nur Handgepäck mitgenommen
werden, das ein jeder tragen mußte. Der Truppführer der Miliz schoß
mit der Pistole in die Luft, um sich Gehör zu verschaffen. Er gab bekannt, daß
nur das mitgenommen werden darf, was jeder in der Hand tragen kann, alles andere hat
zurückzubleiben. Es darf nur ein Gespann für kleine Kinder und kranke Personen
mitgenommen werden. Nach Verhandlungen mit dem tschechischen Landrat wurden uns schließlich
fünf Gespanne genehmigt. Nach fünfstündigem Warten setzte sich der Treck
in Bewegung. Es ging auf die Reichsgrenze in Sachsen zu. Nach kurzer Wanderung wurde
der Zug von russischen Soldaten überfallen und der letzte Teil, der etwas zurückgeblieben
war, der wenigen Habe beraubt.
Einige Tage danach wurde der Treck von zwei tschechischen Gendarmen angehalten und
zwei Gespanne zurückbehalten. Von diesen Beamten wurden außerdem Treckführer
mehrere Personen durch Schläge mißhandelt, weil die vorgelegten Papiere
von der Treckstelle in Luditz nicht mit dem Dienstsiegel versehen waren. Mitte Juni
1945 wurde die tschechisch-sächsische Grenze in der Nähe von Annaberg/Sachsen
erreicht. Bei der tschechischen Grenzkontrolle wurde von der Miliz eine eingehende
Durchsuchung aller Personen, auch der Kleinkinder, vorgenommen. Was den Kontrolleuren
als nicht brauchbar erschien, wurde zerstreut, und so haben wir alle nur das, was wir
auf dem Leibe trugen, übrigbehalten. Daß es hierbei nicht ohne Mißhandlungen
abging, wäre noch zu erwähnen. Neben mir wurde der Kreiskraftwagenführer
Mühlbach, in dessen Brieftasche einige Briefmarken mit dem Hitlerbild gefunden
wurden, mit Fäusten bearbeitet.
Wir versuchten nun, so schnell es ging, durch Sachsen zu kommen, um Schlesien zu erreichen.
Zu unserem Glück oder Unglück, wer kann dies ergründen, wurden wir in
der Nähe von Bautzen nach dem Kreis Kamenz/Sachsen umgeleitet und weiteres Trecken
verboten. Nach und nach wurden die Treckangehörigen vom Flüchtlingsamt Kamenz
auf andere Gebiete der sowjetischen Besatzungszone verteilt. Es befinden sich heute
nur wenige Namslauer an einer Stelle. Ein Teil erreichte nach vielen Irrfahrten den
Westen Deutschlands.
1)"Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-/Mitteleuropa",
Band 1/1 "Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich
der Oder-Neiße" (S. 414 ff.), heraus
gegeben vom Bundesministerium für Vertriebene
2) Verfasser vermerkt hier noch, daß Landrat und stellv. Bürgermeister
die Stadt erst verließen, als sie unter Beschuß lag.
3) Hierzu führt der Verfasser ein Beispiel an
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