Helmut Statkiewicz
Anfang der dreißiger Jahre zogen meine Eltern nach Wilkau in das Auszugshaus
des Bauern Fritz Jarausch. Es war der vorletzte Bauernhof, bevor die Dorfstraße
hinter dem Bauern Maskus und dem gegenüberliegenden Gut Neuwilkau in den Feldweg
nach Jakobsdorf bzw. Pangau mündete. Der Jarauschhof war rechteckig angelegt.
Auf der einen Seite das Bauernhaus mit Kuhstall, Futterkammer und Wagenhalle, auf der
gegenüberliegenden Seite das Auszugshaus, der Pferde- und Schweinestall. Den Abschluss
zur Feldseite bildete die Scheune mit zwei Durchfahrten. Diese bauliche Anordnung erlaubte
es später den polnischen Siedlern, ohne größeren Aufwand den Hof durch
einen Zaun zu teilen und zwei Anwesen daraus zu machen.
Mein Vater war Schumacher und nachdem in Wilkau dieses Handwerk ausreichend vertreten
war, fand er bis zum Kriegsbeginn in der Namslauer Brauerei Arbeit. Mit Kriegsbeginn
!. 9. 1939 wurde er zur schlesischen Infanteriedivision 252 eingezogen, die am 26.
8. 1939 als Division der 4. Welle aufgestellt worden war. Auch zwei Brüder meiner
Mutter Fritz Pocha aus Wilkau und Josef Pocha aus Grambschütz gehörten dieser
Division an.
Die letzten Monate vor der Flucht
Bei weitsichtigen Deutschen kamen sicherlich spätestens nach Stalingrad Zweifel
am Endsieg auf, und als man in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 mit dem Bau
einer Verteidigungslinie entlang der schlesischen Grenze begann, ahnten sicherlich
auch viele Wilkauer, dass großes Unheil für Deutschland und hier insbesondere
für die Ostprovinzen heraufzog. Dass Wilkau im Zuge des weiteren Kriegsverlaufes
vielleicht vorübergehend geräumt werden müsse, war in denkbare Nähe
gerückt, der endgültige Verlust der Heimat jedoch unvorstellbar. Uns Kindern
waren solche Gedanken fremd. Mit uns sprach keiner über die Befürchtungen
der Erwachsenen. Wir schnappten auch kaum etwas darüber auf, denn defätistische
Äußerungen waren lebensgefährlich. Anderseits tat die Schule alles,
damit wir den Glauben an den Endsieg nicht verlieren. Mit Erlass vom 25.9.1944 wurde
die Aufstellung des Volkssturms befohlen, der aus vier Aufgeboten bestand. Darin wurden
alle waffenfähigen Männer von 16 bis 60 Jahren - soweit nicht bei der Wehrmacht
- erfasst. Und bald gab es dazu ein Kampflied: "Kameraden hört ihr die Fanfaren,
die mit ihrem altvertrauten Feldgeschrei, immer uns in Not und Gefahren Rufer und auch
Siegeskünder waren, "und der Refrain: "Wieder gellen nun die Sturmsignale,
wieder dröhnen Glocken hoch vom Turm, wieder wehen Fahnen nun als lodernde Fanale:
Volk geht zum Sturm." So lernte ich es als Elfjähriger in der Bernstädter
Mittelschule. Das allerletzte militärische Aufgebot: unzureichend bewaffnet, schlecht
oder gar nicht ausgebildet, z. T. nicht einmal in einheitlichen Uniformen. Dazu der
damalige Volksmund ironisch: "Bekleidung und Verpflegung sind mitzubringen, Armbinde
und Feind stellt das Deutsche Reich " (Aus "Die Geschichte des Kreises Namslau",
verfasst vom letzten Landrat Dr. Heinrich.)
Schon Angehörige der Landwacht, aus unserer Nachbarschaft die Bauern Reinhold
Buchwald und Reinhold Frey klagten über ihre unzuverlässigen "Badoglio"-Gewehre.
Die Landwacht wurde am 17. 1. 1942 zum Schutz der Bevölkerung auf dem Lande gegen
entwichene Gefangene, Zwangsarbeiter und andere Personen, die im Herumtreiben die öffentliche
Sicherheit und Ordnung gefährden, gebildet. Bei gegebenem Anlass führte die
Landwacht (an ihren weißen Binden mit dem Aufdruck "Landwacht" zu erkennen
) Patrouillen und Fahrzeugkontrollen durch.
Ich erinnere mich an einen Einsatz im Sommer 1944, als es mehreren russischen Kriegsgefangenen
auf der Bahnstrecke Namslau - Grambschütz gelang, nachts aus dem Transportzug
zu fliehen. Es war kurz hinter Giesdorf in der Nähe eines Bahnübergangs,
wo mein Onkel Josef Pocha nach seiner schweren Verwundung im Frankreichfeldzug als
Schrankenwärter eingesetzt war.
Damals überprüften in Wilkau Angehörige der Landwacht an einer Straßensperre
(quergestellte Bauerwagen) Fahrzeuge auf der Reichsstraße 117.
Auch in Namslau kontrollierten Angehörige des Reichsarbeitsdienstes Personen und
Fahrzeuge.
Ein weiteres Ereignis durfte die Wilkauer nachdenklich und besorgt über die sich
immer weiter verschlechternde militärische Lage gestimmt haben:
Wilkau dient vom 5. 9. bis 8. 12. 1944 als Versteck für Flugzeuge der Luftwaffe
Sophie T. aus Neuwilkau, seinerzeit gut 14 Jahre alt, hat darüber Tagebuch geführt.
Sie hat mir freundlicherweise ihre Aufzeichnungen überlassen. Darauf basieren
weitgehend nachstehende Ausführungen.
Den Bauernhof Maskus habe ich eingangs schon erwähnt. Zu ihm gehörte das
so genannte Maskuspüschel, ein kleines mit vielen Sträuchern durchsetztes
Laubwäldchen am Ende des Dorfes. Ihm schlossen sich unmittelbar die Felder des
Gutes Jakobsdorf an. Dort, auf einem abgeernteten Flachsfeld, landete am 2. 9. 1944
ein Fieseler-Storch. Der Pilot machte Fotoaufnahmen. Sogleich hieß es, in Wilkau
werde ein Militärflugplatz errichtet. Am 5. 9. landeten zu unserem großen
Erstaunen vier zweimotorige Kampfflugzeuge vom Typ Ju 88. Die Besatzung tat alles,
die Neugierde von uns Kindern zu befriedigen. Wir durften in die Kanzel und auch an
den Steuerknüppel. Doppelposten zogen auf. Schneisen wurden in das Püschel
geschlagen und fünf Maschinen - eine war noch am 8.9. gelandet - darin abgestellt
und entsprechend getarnt. Für uns Jungen war damit das Kapitel weitgehend erledigt.
Nicht jedoch für die jungen Mädchen, die sich in erster Linie für die
schmucken jungen Fliegersoldaten vom Fliegerhorst Märzdorf/Ohlau interessierten.
Das Wachkommando wurde zweimal ausgewechselt (erstmals schon am 27.10.). Insgesamt
taten hintereinander 48 Mann in Wilkau Dienst. Sogar ihre Namen hat die Tagebuchschreiberin
sorgfältig festgehalten.
Unter den Soldaten waren einige gute Sänger und ein Gitarren- bzw. Klavierspieler.
Gemeinsam mit den Soldaten und dem BDM gab es im Gasthaus Ulbrich zwei bunte Abende
(14. und 27.10.) Beim letzten Abend ereignete sich ein tragischer Zwischenfall. Zwei
Mädchen verließen gegen 22.45 Uhr das Gasthaus. Sie wollten zu zwei Wachposten,
von denen einer mit einem der Mädchen befreundet war. Vielleicht aus Spaß
oder Übermut gaben sich die Mädchen nicht sofort zu erkennen. Eine darauf
abgefeuerte Leuchtkugel traf eines von ihnen - tödlich.
Am 8. 12. kehrten die Flugzeuge nach Märzdorf zurück. Drei Monate - aus welchen
Gründen auch immer - hatten sie nutzlos herumgestanden. Die Wachmannschaft folgte
am nächsten Tag.
Noch einmal brachten sich die Flieger in Erinnerung: Am 16. 12. kreiste ein Flugzeug
in niedriger Höhe dreimal über dem Gut Neuwilkau. Ein Gruß des Unteroffiziers
Kurt L. an seine "Angebetete" Wanda T.
Am gleichen Tag hatte in den Ardennen die Rundstedt-Offensive begonnen, ein letztes
vergebliches Aufbäumen der deutschen Wehrmacht gegen den übermächtigen
Feind im Westen.
Von da an sollte es nur noch gut einen Monat bis zum Beginn der größten
Katastrophe in der Geschichte der deutschen Ostprovinzen dauern, an deren Ende der
endgültige Verlust der Heimat für die dort seit Jahrhunderten ansässige
deutsche Bevölkerung stehen sollte.
Weihnachten und Silvester 1944
Wie althergebracht feierte man in Wilkau Weihnachten. die sechste Kriegsweihnacht,
für die meisten das letzte Weihnachten in ihrer angestammten Heimat. Am Materiellen
mangelte es im Großen und Ganzen auf dem Lande nicht, wenn auch die Geschenke
nicht mehr so üppig ausfielen. Sogar etwas echte Schokolade (keine Kriegsschokolade)
hatte meine Mutter besorgt. In Wilkau gab es französische Kriegsgefangene, die
in der Landwirtschaft eingesetzt waren. Sie schliefen nicht bei den Bauern, sondern
es gab für sie zwei zentrale Unterkünfte, in denen zuvor polnische Kriegsgefangene
untergebracht waren. Das eine Haus war gegenüber von Hodt, das zweite in der Nähe
des Goldert-Gutes. Regulär bewacht wurden die Gefangenen nicht. Sie hatten eine
Art Selbstverwaltung. Über das Rote Kreuz bekamen sie ab und zu Päckchen
mit Köstlichkeiten, die es bei uns weitgehend nicht mehr gab. Louis, der Gefangene,
der beim Bauern Buchwald arbeitete, öffnete ab und zu seinen mit einem Zahlenschloss
versehehenen Holzkoffer, um meinen Freund und mir etwas Schokolade zu schenken. - Zusammen
mit einigen Kameraden wollte er Weihnachten feiern. Von meiner Mutter erhielt er dazu
ein Kaninchen, und wir bekamen von ihm etwas Schokolade.
Angesichts der bedrohlichen Kriegslage gab es nur wenige Urlauber. Wilkau beherbergte
eine größere Zahl von Evakuierten, Frauen mit ihren Kindern aus dem Kölner
Raum, die Zuflucht in den kaum bombenbedrohten Ostgebieten fanden. Auch im Zuge der
Landverschickung waren Kinder aus Berlin bei den Bauern untergebracht.
Und im Spätherbst kamen noch einige volksdeutsche Bauernfamilien mit Pferd und
Wagen aus Ungarn. Wir Kinder verstanden ihren deutschen Dialekt nicht, und die hohen
Fellmützen der Männer waren für uns befremdlich. So waren diese Menschen
für uns einfach Ungarn.
Mehr denn je werden in der Silvesternacht die Menschen besorgte Fragen an das Neue
Jahr gestellt haben. Dazu Paul Keller in seinem Gedicht "Neujahr" :
" Die Menschen schauen ins Finst`re hinaus, der Sturmwind fährt ums
schlesische Haus,
und nur ein Sternlein wacht.
Du neues Jahr, bringst du Sorge ums Brot, bringst du dürre Zeit oder
Wassersnot,
bringst du Lust oder Qual?
Die Finsternis schweigt.
Nur der goldene Stern wie ein Auge voll Liebe schaut aus der Fern
ins schlesische Tal."
Galt Letzteres auch zum Jahreswechsel 1944/45?
Die letzte Colende
In der Zugehörigkeit seiner Bewohner zu den einzelnen Religionsgemeinschaften
war der Landkreis Namslau nicht homogen. Die Katholiken waren, auch wenn es in manchem
Dorf anders sein mochte, in der Minderheit. Glaubensstreitigkeiten unter der Bevölkerung
gab es nicht. Sie hätten auch dem Wesen des Schlesiers mit seiner Toleranz, seiner
schier grenzenlosen Gutmütigkeit und seinem grüblerischen Hang bei der Suche
nach Gott diametral widersprochen.
Wilkau war ein protestantisches Dorf, wobei sich die Protestanten in evangelisch und
lutherisch aufteilten. Die einen gingen nach Namslau oder Pangau, die anderen nach
Bernstadt zur Kirche.
Nur zwei der größeren und eine Handvoll kleinerer Bauern waren katholisch.
Daneben gab es noch einige Handwerker (Tischler, Schuhmacher), einige Bahnbedienstete,
der Dorfpolizist und einige andere Arbeitnehmer, die sich zur katholischen Kirche bekannten.
Die meisten von ihnen waren wohl Landarbeiter von den 6 Gütern: Nieder-, Ober-,
Mittel-, Klein-, Hohen- und Neuwilkau. Die Kirche in Wilkau, dem Heiligen Nikolaus
geweiht, gelangte mit der Reformation in evangelische Hände, musste 1654 aber
an die Katholiken zurückgegeben werden. Im Jahre 1764 kam Wilkau, bis dahin eigene
Pfarrei, zur Pfarrei Namslau. Bis zur Flucht im Januar 1945 fanden in der Regel jeden
2. Sonntag Gottesdienste statt. Wenn auch der Pfarrer, der Kaplan und manchmal aushilfsweise
ein Pater der Barmherzigen Brüder aus Namslau die Messe zelebrierten, so verfügte
Wilkau über eine eigene kleine Ministrantenschar. Infolge der wenigen Gottesdienste
fehlte es aber an der nötigen Unterweisung und Führung. So mangelte es an
den nötigen Lateinkenntnissen. Bekanntlich galt damals der lateinische Ritus und
verschiedene Messtexte wurden wechselweise zwischen Pfarrer und Ministranten halblaut
gesprochen, während das Kirchenvolk zur Orgel sang. Zur sprachlichen Unterstützung
gab es für die Ministranten eine Tafel aus Pappe, auf welcher der lateinische
Text festgehalten war. Leider war der Text an manchen Stellen nicht mehr lesbar. Gerade
beim längsten Gebet, dem Confiteor, haperte es. Die älteren Ministranten
wussten sich zu helfen, indem sie undeutlich murmelten, was sich wie Rhabarber, Rhabarber
anhörte, versäumten aber dabei nicht, das "Mea culpa, mea culpa, mea
maxima culpa", was mit dreimaligen Klopfen an die Brust verbunden war, deutlich
zu artikulieren. Wir jüngeren Ministranten nahmen bald diese eigenartige Betweise
an.
In verschiedenen Gegenden Deutschlands ziehen um Epiphanie (Heilige Dreikönige)
die Sternsinger als verkleidete Könige: Caspar, Melchior und Balthasar von Haus
zu Haus, besingen Christi Geburt und schreiben mit Kreide + C + M + B + und das jeweilige
Jahr an die Haustür, um danach das Haus mit reichlichen Geschenken, meist in Geld,
zu verlassen.
Auch in Schlesien gab es diesen Brauch unter der Bezeichnung Colende. Allerdings waren
es nicht die Sternsinger, sondern der Pfarrer, der gemeinsam mit dem Küster und
zwei Ministranten, zum Hausbesuch aufbrach. Besonders sorgfältig und gründlich
wurden die Wohnungen für diesen Tag geputzt. In der "Guten Stube" wurde
der Tisch weiß eingedeckt und darauf ein Kruzifix zwischen zwei Kerzenleuchter
gestellt. Vor dem Tisch stand die Ritsche, die in keinem Haus fehlte und zum Betschemel
umfunktioniert worden war. Die Kinder des Hauses waren sehr aufgeregt, fürchteten
sie doch, sich beim "Examinieren" durch "Hochwürden" zu blamieren.
An der letzten Colende in Wilkau nahm ich als elfjähriger Ministrant teil.
Nach der sonntäglichen Heiligen Messe bestiegen Pfarrer Stosiek, mein Cousin Herbert
Pocha, als Vertreter des Küsters Tischlermeister Schöbel und wir zwei Ministranten
einen Pferdeschlitten. Meistens versuchten wir Ministranten beim Betreten des Hauses
dem Pfarrer etwas vorauszueilen, damit wir unbeschwert die erste Strophe des Liedes
"Zu Bethlehem geboren" singen konnten. In der Guten Stube nahmen wir rechts
und links von der Ritsche Aufstellung und warteten auf den Pfarrer. Nachdem dieser
auf der Ritsche kniend einige Gebete verrichtet hatte, hielt er jedem ein kleines Kruzifix
zum Kusse hin. Danach erkundigte er sich nach dem Befinden der Familie und prüfte
den religiösen Wissensstand der Kinder. In der Zwischenzeit schrieb mein Cousin
19 + C + M + B + 45 an die Wohnungstür. Nach Auslegung der Kirche sollten diese
Buchstaben "Christus mansionem benedica - Christus segne diese Wohnung"heißen.
Mit Geldgeschenken überhäuft verließen wir das Haus. Das Geld, das
die Ministranten erhielten, wurde später auf alle Ministranten aufgeteilt. Hier
und da steckte Pfarrer Stosiek der einen oder anderen bedürftigen Familie einen
Geldschein zu.
Bei einem solch großen geistlichen Ereignis durfte auch der Leib nicht zu kurz
kommen. Ein fürstliches Mittagessen gab es bei Bauer Glatz, gevespert wurde bei
Bauer Skupin -Er wurde wenige Tage später beim Einmarsch der Roten Armee ermordet
- und nach Abschluss der Hausbesuche erwartete uns ein üppiges Abendbrot bei Bauer
Baron.
Dass es die letzte Colende im deutschen Wilkau war, ahnte wohl niemand.
Die Flucht am 19. 01. 1945
Einige Tage zuvor zeigte mir Hans Jarausch, am 31.12.1944 gerade 15 Jahre alt geworden,
den für die Flucht vorbereiteten Pferdewagen. Er war in der Scheune abgestellt
und mit einer Plaue (Plane) versehen. Normalerweise diente diese in der Erntezeit als
Decke, die man in den Leiterwagen legte, damit nicht bei überreifem Getreide zu
viele Körner verloren gehen. Unter dem Siegel strengster Geheimhaltung berichtete
Hans über die zu befürchtende Flucht. Ich sah darin eine große Herausforderung,
ein verlockendes Abenteuer mit einem Pferdewagen durchs Land zu fahren.
Der letzte Schultag war für mich der 18. Januar. Wie immer in den Wintermonaten
musste ich vor 6 Uhr aus dem Haus, mit dem Rad die etw. 4 km zum Bahnhof, um den Zug
um halb sieben nach Bernstadt zu nehmen. Diesmal war auf dem Bahnhof alles anders als
sonst. Im Dienstraum herrschte geschäftiges Treiben. Es gab auch mehr Reisende
als sonst, die auf den Zug in Richtung Breslau warteten. Dieser hatte Verspätung,
was auf einer schwarzen Tafel mit weißer Schrift angezeigt wurde. Wiederholt
berichtigte der Bahnbeamte mit weißer Kreide die voraussichtliche Ankunftszeit
des Zuges.
Irgendwann stieg ich in den überfüllten Zug. Ich ahnte nicht, dass die Fahrgäste
zum größten Teil Flüchtlinge waren, die mich etwas verwundert musterten.
In der Klasse fehlte eine größere Zahl von Schülern. Der Unterricht
war kurz. Mit dem Bemerken, dass wohl in nächster Zeit ein geregelter Unterricht
kaum möglich sein werde, schickte man uns von dannen. Fahrplanmäßig
ging mein Zug erst um 14.16 Uhr. So schlenderte ich gemächlich zum Bahnhof. Zu
meiner großen Überraschung musste ich nicht lange warten. Ein überlanger
menschenleerer Personenzug lief ein. Mit den Worten: "Dieser Zug hält in
Wilkau", schob mich der Bahnhofsbeamte in ein Abteil.
Am nächsten Tag blieb ich zu Hause und auf Anraten des Nachbarn Buchwald kehrten
meine Schwestern auf dem Weg zur Schule um. Mit meinem Freund Gotthard Buchwald ging
ich dorfeinwärts. Der Schmiedemeister Tischer hatte viel zu tun, die Pferde mit
Wintereisen zu versehen.
Die Ungarndeutschen hatten ihre Pferde größtenteils verkauft. Eine Frau
bat meine Mutter um unseren Rodelschlitten. Ich wollte ihn nicht hergeben, und so ging
die arme Frau traurig von dannen.
Bei Jarausch wusste man nicht, was mit einer hochtragenden Stute geschehen sollte.
Sie war in einem Laufstall untergebracht und schon über der Zeit. - In der Dämmerung
wurde ein Schwein schwarzgeschlachtet, das Fleisch auf dem Fluchtwagen verstaut, wo
es bald tief gefror.
Eine kleine Episode am Rande: Wie viele andere war mein Vater Mitglied der SA. Allerdings
einige Zeit vor Kriegsausbruch nicht mehr. Sein Uniformhemd hing immer noch im Kleiderschrank.
Die Hose hatte meine Mutter etwas "respektlos" 1939 dem polnischen Knecht
von Jarausch geschenkt, der wenig zum Anziehen hatte. Über die Uniformierung des
Volkstums gab es verschiedene Gerüchte. So auch, dass er SA-Uniformen erhalten
sollte. Aus diesem Grunde nahm meine Mutter am Abend der Flucht Vaters Braunhemd aus
dem Schrank und legte es zur Abholung auf die Ehebetten.
Am 19. 1. gingen wir Kinder zeitig schlafen, zogen uns aber nicht groß aus. Gegen
21. 30 Uhr hörte man die Feuertute. Dorfnachtwächter Post gab das Signal
zum Aufbruch. Den südlichen Teil des Dorfes alarmierte der 15-jährige Fritz
Wasner ("Post"-Wasner). Unsere mitzunehmenden wenigen Sachen hatten wir schon
längst auf Jarauschs Fluchtwagen verstaut. Er wurde von den zwei kräftigsten
Pferden gezogen. Ihm folgte der Plauwagen mit der hochtragenden Stute und einem jungen
Pferd, das erstmals im Sommer eingespannt worden war. Die Plauwagen waren für
Alte und Gebrechliche sowie Mütter mit Kleinkindern bestimmt. So hatten u. a.
im Plauwagen Frau Fuchs mit ihren zwei Kindern Platz gefunden. Frau Fuchs stammte aus
Köln. Für sie hatten Jarausch auf unserem Boden zwei Wohnräume ausgebaut.
Der Treck sammelte sich auf dem Weg nach Damnig. Treckführer sollten grundsätzlich
die jeweiligen Ortsbauernführer sein. Wer den Wilkauer Treck anführte, weiß
ich nicht. Bei größeren Gemeinden war es zweckmäßig, kleinere
Einheiten zu bilden und schon in Wilkau war der Treck nicht vollständig. Gutsbesitzer
Goldert - damals Oberstleutnant der Reserve - brach mit seinen Leuten erst am 20. 1.
um 5. 00 Uhr auf. Dieser Treck bestand aus neun Gespannen und zwei Traktoren und sollte
letztendlich im Bayerischen Wald enden. Später, insbesondere nach dem Aufenthalt
im Kreis Landeshut, setzte sich der Aufteilungsprozeß fort. Nur ein Teil der
Wilkauer befand sich am Ende des Krieges im Kreis Luditz/Sudetengau. dem offiziellen
Auffangkreis für den Kreis Namslau.
Nach längerer Wartezeit setzte sich der Treck Wilkau in Bewegung und erreichte
am Nachmittag des 20. 1. das Dorf Bischwitz im Kreis Ohlau. Die Bewohner waren schon
am Vormittag geflüchtet. Es war ein eigenartiges Gefühl, in leerstehende
Häuser einzudringen, sich der vorhandenen Lebensmittel zu bedienen und dort zu
nächtigen. Die Erwachsenen kümmerten sich -so gut wie es ging - um das zurückgelassene
Vieh, fütterten es und melkten die Kühe.
Am nächsten Tag stand eine schwierige Etappe vor uns. Es war nicht die Entfernung
bis Ohlau, sondern die hoffnungslos verstopften Straßen und Wege. Alle wollten
schnellstens die vermeintlich rettende linke Oderseite erreichen. Aber es gab für
den Flüchtlingsansturm zu wenige Oderübergänge und keiner wusste, wie
schnell die Rote Armee vorrückt und wann die Wehrmacht die zur Sprengung vorbereiteten
Brücken in die Luft jagt. Es war wohl einer der kältesten Tage, und die Wagen
standen mehr, als dass sie sich fortbewegten. Gegen Mitternacht passierten wir die
Oderbrücke in Ohlau, wo das Sprengkommando die Flüchtlinge energisch zur
Eile antrieb. Meine Abenteuerlust war mir nach zwei Tagen gehörig vergangen.
Wir übernachteten bei Verwandten von Jarausch, die in Ohlau eine Ölmühle
besaßen. Zum ersten Mal schlief ich auf dem Fußboden. Trotz großer
Müdigkeit und dem ausgebreiteten Schafspelz spürte ich die Härte des
Bodens.
Beim Frühstück gab es eine große Überraschung: Unsere Nachbarin,
Frau Grätz, die wir in Wilkau wähnten, war aufgetaucht. Frau Grätz,
welche seit dem ersten Weltkrieg Witwe war, wollte mit ihrer verheirateten Tochter
nicht flüchten. Nachdem die Wilkauer fort waren, konnte sie einer der kontrollierenden
Volkssturmmänner doch noch zur Flucht überreden. Nachdem es aber keine Pferde
mehr gab, spannte man einen Ochsen vom Neuwilkauer Gut vor die mit wenigen Habseligkeiten
beladene Schleppe. So eilte sie dem Treck hinterher. Wie es für sie weiterging,
weiß ich nicht. Nach dem Zusammenbruch meldete sie sich aus Sachsen.
Von Ohlau ging es in Richtung Strehlen und weiter in den Landkreis Reichenbach. Als
am Horizont die Silhouette des Zobten auftauchte, war ich von dem "Naturwunder"
äußerst fasziniert. Zwar hatten wir in Heimatkunde bei Lehrer Kartschoke
die schlesischen Berge intensiv gepaukt, aber als Kind der Ebene hatte man doch keine
richtige Vorstellung. - An jedem Spätnachmittag dann die "Herbergsuche",
die sich viele, viele tausendmal im deutschen Osten wiederholte. Meistens nahm hierzu
meine Mutter meine jüngste Schwester (8 Jahre) und mich mit. Und uns wurde bereitwillig
von den schlesischen Landsleuten geholfen. Wie oft wir bis Grüssau übernachten
mussten, weiß ich nicht mehr. Nur wenn noch andere Ereignisse mit der Übernachtung
verbunden waren, blieben mir diese im Gedächtnis. So kamen wir auf einem Gut im
Kreis Reichenbach bei dem Gärtner unter. In der Küche hing ein feldgrauer
Wehrmachtsoverall, als Uniform für den Hausherrn bestimmt. Er hatte den Einberufungsbefehl
zum Volkssturm nach Breslau. In dieser Nacht genossen wir Kinder die "himmlischen"
Ehebetten. Als wir aufstanden, war der Gastgeber schon fort. Hans Jarausch überraschte
mit einer Neuigkeit: Die Stute Gerda hatte in dieser Nacht gefohlt. Der Gutsverwalter
hatte für die Stute und das gesunde Fohlen einen fünfjährigen Wallach
angeboten. Doch Frau Jarausch wollte ohne ihren Mann, der bei der Wehrmacht war, nicht
darüber entscheiden. Und so nahm sie das Tauschangebot nicht an. Stute und Fohlen
blieben zurück. Der Plauwagen wurde an den Fluchtwagen angehängt, der nunmehr
von drei Pferden gezogen wurde. Weiter ging die Fahrt ins Waldenburger Bergland. In
einem Dorf hinter Waldenburg mussten wir uns zum Übernachten aufteilen. Ich schlief
bei einem älteren Ehepaar. Auf dem Kleiderschrank lag eine imposante Bergmannskappe
mit Federbusch, die ich neugierig betrachtete. Dies blieb dem Hausherrn nicht verborgen.
So setzte er sich die Kappe auf, griff zur Trompete und blies mir ein Ständchen.
Am liebsten hätten mich die alten Leutchen bei sich behalten.
Irgendwo auf der Flucht überholte uns ein Trupp Gefangener, die strengstens bewacht
wurden. Sie waren in Zivilkleidung. Nach etwa hundert Metern hatte die Wachmannschaft
einen Gefangenen erschossen. Er hatte versucht, dem Mädchen Elli Polka etwas Essbares
aus der Hand zu reißen. Kurz darauf lag ein weiterer Erschossener im Straßengraben.
Zuflucht in Grüssau Kreis Landeshut
Vermutlich kamen wir am 25. oder 26. in Grüssau an.
Und wieder hieß es, eine Bleibe zu suchen. Meine Mutter. meine jüngste Schwester
Marthel und ich kamen bei einer alleinstehehenden Frau unter. während meine Schwester
Gerda im gleichen Haus bei einer Handwerkerfamilie Aufnahme fand. "Fräulein"
Kirsch arbeitete in Landeshut in der Leinenindustrie. Sie teilte mit uns ihre Einzimmerwohnung
und tat für uns alles, was sie nur konnte. Inzwischen wussten wir auch, wo meine
anderen zwei Schwestern aus Wilkau waren, die mit dem Gutsbesitzer Jänike bzw.
Tischlermeister Schöbel aufgebrochen waren. Mit dem Grambschützer Treck,
der etwas später in Grüssau eintraf, kamen Mutters Bruder mit Frau, meine
Großmutter, die Altgrambschütz nicht verlassen wollte und meine Schwester,
die bei Dr Grothe in Stellung war. Auch mein Onkel aus Maltsch mit seiner Familie hatte
Aufnahme in Landeshut gefunden und bald wussten wir auch von unseren anderen Verwandten
(alle aus dem Kreis Namslau), dass sie die Flucht heil überstanden hatten. Keine
Nachricht hatten wir von meiner damals 18-jährigen Schwester, die in Breslau beschäftigt
war.
Mit tatkräftiger Unterstützung von Fräulein Kirsch hatte meine Mutter
Lebensmittel besorgt und am letzten Sonntag in Grüssau eine Zusammenkunft mit
einem Teil unserer Verwandten arrangiert. Fräulein Kirsch überließ
uns an diesem Tag ihre Wohnung und ging zu Verwandten. Mit meinen Cousins aus Maltsch
streifte ich durch den Ort, sahen uns eine halbfertige Panzersperre an. Aus der Ferne
hörten wir Gesang. Vermutlich waren es Soldaten, die das "Schlesierlied"
und das "Burenlied" sangen. Ansonsten erinnere ich mich daran, dass uns Mutter
jeden Tag zur Hl. Messe in die Josephskirche schickte.
Weiter ins Sudetenland
Während der Zeit im Landkreis Landeshut wurden verschiedentlich Gespanne aus dem
Kreis Namslau in einige von der Zivilbevölkerung geräumte Orte (z.B. Liegnitz)
geschickt, um Lebensmittel, insbesondere Mehl und Zucker zu holen. Diese Fahrten dauerten
in der Regel 6 bis 7 Tage. Nicht alle Wagen waren deshalb zur befohlenen Weiterfahrt
ins benachbarte Sudetenland zur Stelle. Inwieweit auch Wilkauer Fuhrwerke an dieser
Lebensmittelaktion beteiligt waren, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Der allgemeine Aufbruch geschah zwischen dem 12. bis 14. Februar. Wir nahmen Abschied
von Frau Fuchs, welche sich mit ihren beiden Kindern nach Köln durchschlagen wollte.
Unser Treck verließ Grüssau am 12. oder 13.2. Er führte über das
Riesengebirge nach Trautenau. Hier sahen wir Mutters Bruder aus Maltsch mit seiner
Familie auf einem Wehrmachts-LKW. Nun musste Onkel Paul, der im 1. Weltkrieg in den
Karpaten, in Frankreich am Chemin des Dammes gekämpft und nach Kriegsende auch
am Annaberg teilgenommen hatte, wieder einrücken. Nach dem Polenfeldzug war er
bis zur Flucht aus Maltsch reklamiert worden. Wir übernachteten das erste Mal
wenige Kilometer hinter Trautenau. Hier trafen wir auf einen Trupp englischer Kriegsgefangener.
Wir unterhielten uns mit ihnen, bis der gutmütige Wachposten schließlich
Einhalt gebot. Weitere größere Orte auf unserer Route waren Nova Paka (Neupaka/
Protektorat) Jicin (Jitschin/Protektorat), vermutlich Sobottka, Bakov. Dubai (Dauba),
dann Leitmeritz, Lobositz, Trebnitz, bis wir schließlich in Dobritschan Kreis
Saaz ankamen. Eigentlich war für die Flüchtlinge des Kreises Namslau der
Kreis Luditz vorgesehen. Aber viele Trecks fanden wie auch wir andernorts eine Bleibe.
Erinnert sei beispielsweise an die Trecks aus Dammer, Grambschütz und aus Wilkau
(Gutsbesitzer Goldert), die bis Bayern gelangten. Leider kann ich mich bei der Fahrt
durch das Sudetenland nur an die Orte Trautenau, Jitschin und Leitmeritz und natürlich
Saaz und Dobritschan erinnern. Im Sudetenland gab es in den größeren Orten
Flüchtlingsleitstellen, welche die zu befahrenden Straßen bestimmten und
die Trecks an die nächste Leitstelle meldeten. So konnten auch die Übernachtungsmöglichkeiten
besser koordiniert werden.
Zwei- oder dreimal übernachteten wir im so genannten Protektorat, so unter anderem
in Jitschin. Hier waren wir in der Mitte der Stadt im Tanzsaal eines Hotels untergebracht,
während die Pferde außerhalb der Stadt die Nacht im Freien verbringen mussten.
Am Morgen hieß es, dass die Tschechen in der vergangenen Nacht das Hotel in die
Luft sprengen wollten, was aber rechtzeitig vereitelt werden konnte. Sicherlich eines
von vielen Gerüchten, die damals kursierten.
Noch etwas zum Protektorat: Wir erreichten es an einem Sonntag und waren erstaunt,
wie ruhig dort die Verhältnisse waren. Junge Paare flanierten gut gekleidet mit
Kinderwagen durch die Orte. Ein Bild des Friedens, während die Flüchtlinge
einen jammervollen Eindruck machten. Wehrfähige Männer gab es unter den Flüchtlingen
kaum noch. Ein geschlagenes Volk bewegte sich durch Böhmen.
Dobritschan Kreis Saaz neuer Zufluchtsort
Als wir so um den 22. Februar in Dobritschan ankamen, lag eine beschwerliche Fahrt
hinter uns. Menschen und Pferde waren auf das Äußerste erschöpft. Die
anstrengende Überquerung des Riesengebirges zur Winterszeit hatte ihnen die letzte
Kraft abgefordert. Da die Bauernwagen aus der schlesischen Tiefebene keine Bremsen
hatten, waren die Bergstrecken äußerst gefährlich. Zuhause brauchte
man keine Bremsen. Mit Hilfe der Steuerkette, die Pferdegeschirr und Deichsel verband,
bremsten die Pferde den Wagen ab. Im Gebirge reichte eine solch primitive Bremsvorrichtung
jedoch nicht. Um nicht bergab die Kontrolle über die Fuhrwerke zu verlieren, blockierte
man ein Hinterrad, indem man eine Kette zwischen Langbaum und Rad anbrachte oder steckte
ein Stück Holz in die Speichen und hinter die Runge und hielt es mit den Händen
fest. So konnte man ein Rad ebenfalls blockieren bzw. abbremsen.
Obwohl im böhmischen Teil des Riesengebirges der schlesische Dialekt vorherrschte,
spürte man, dass das Land für uns fremd war. Dieser Eindruck verstärkte
sich noch, als wir durch tschechisches Gebiet fuhren. Und auch die Hopfendörfer
in der Umgebung von Saaz hatten für uns nicht gerade etwas Vertrautes an sich.
Dobritschan, ein kleines Dorf, mit einem bescheidenen kath. Kirchlein, wurde dominiert
vom Meierhof, in dessen Schloß sich die Gemeindeverwaltung befand. Da nicht alle
Wilkauer privat untergebracht werden konnten, musste ein Teil von ihnen in eine steinerne
Baracke, in ein Massenquartier. Auch wir waren darunter, bis auf zwei meiner Schwestern,
die im Dorf privat untergekommen waren. Vor Beginn des Krieges hatten die Tschechen
mit dem Bau der Baracken für ihr Militär begonnen. Es war jedoch nur ein
Gebäude fertig geworden. Ein Raum diente als Versammlungsraum: An der Wand ein
großes Hitlerbild, die Worte: "Ein Volk, ein Reich, ein Führer",
daneben eine großflächige Hakenkreuzfahne. Sie war wohl noch nie draußen
gehangen. Ihre tief blutrote Farbe strahlte etwas Furchterregendes aus.
In Grüssau waren meine älteren drei Schwestern zu uns gestoßen, so
fehlte nur noch meine Schwester Meta aus Breslau, über deren Aufenthaltsort wir
nichts wussten. Irgendwann kreuzte auch sie in Dobritschan auf. Sie hatte eine Zeitlang
die Belagerung von Breslau erlebt. Aufgewühlt von den dortigen Ereignissen fing
sie einmal im Schlaf zu erzählen an. Es war kein zusammenhangloses Gestammel,
sondern sie berichtete anschaulich über die Lage in der Landeshauptstadt Schlesiens,
über die verzweifelte Situation der Zivilbevölkerung, deren Enttäuschung
über den ausbleibenden Entsatz der Festung und den zunehmenden Vertrauensverlust
in die oberste Führung. Interessiert hörten alle zu. Als ihr Erzählen
in einen Weinkrampf überging, weckte man sie.
Die Erwachsenen mögen die Unterbringung mehrerer Familien in eine Raum wegen mangelnder
hygienischer Verhältnisse, nicht ausreichender Kochgelegenheit, fehlender Intimsphäre
mehr als strapazierend empfunden haben. Ich fand es gar nicht so übel, waren die
Spielgefährten doch ständig anwesend. Und ganz toll war: Wir brauchten nicht
in die Schule zu gehen.
Nicht lange blieb unsere Familie in Dobritschan zusammen. Am 28. 3. 1945 (Frau Tischers
Geburtstag) mussten die Volkssturmänner und alleinstehende Frauen ab 18 Jahre
mit einigen Pferdewagen zurück nach Schlesien, zur Frühjahrsbestellung, wie
es hieß. Auch meine vier älteren Schwestern mussten mit. Jarausch hatten
für diese Aktion ein Pferd abzugeben. So hatten sie nunmehr statt ursprünglich
vier nur noch zwei Pferde. Der Wilkauer Trupp wurde im Kreis Schweidnitz unmittelbar
hinter der Front eingesetzt, in einem Dorf, das zuvor von der Zivilbevölkerung
geräumt worden war.
Kurz vor Kriegsschluss hieß es, dass wir in Richtung Bayern aufbrechen sollten.
Hans Jarausch hatte zwischenzeitlich den Pferdewagen mit einer Spindelbremse versehen.
Somit waren wir für die Weiter- und für die erhoffte Heimfahrt nach Kriegsende
bestens gerüstet. Doch schon nach einigen Stunden wurde der Befehl zur Weiterfahrt
widerrufen.
Bald überschlugen sich die Ereignisse. Russische Kriegsgefangene und später
auch KZ-Häftlinge aus Theresienstadt, die man vor den anrückenden Russen
von Ost nach West getrieben hatte, wurden auf dem Meierhof bzw. auf einen Bauernhof
in einer Hopfendarre untergebracht. Wir sahen, wie SS-Helferinnen die halbverhungerten
Frauen bei der spärlichen Essensausgabe mit Stockschlägen traktierten. -
In einer nahe gelegenen aufgelassenen Kiesgrube übten Soldaten der Luftwaffe unter
Führung eines SS-Offiziers die Panzerbekämpfung. Wir Jungen standen unmittelbar
neben den Soldaten, die mit Übungs-Panzerfäusten auf eine fahrenden Panzerattrappe
schossen. In einem Wäldchen nahe dem Dorf hatte eine Luftwaffeneinheit mehrere
Omnibusse versteckt. Vergeblich ! Amerikanische Jabos, die in den letzten Kriegstagen
ständig am Himmel kreisten und alles unter Beschuss nahmen, zerstörten die
Fahrzeuge. Auch Saaz wurde an einem der letzten Kriegstage angegriffen. An diesem Tag
waren meine Mutter und ich dort zufällig zum Einkaufen. Wir fanden Schutz in einem
Luftschutzkeller und begaben uns sofort nach der Entwarnung unverrichteter Dinge zu
Fuß nach Dobritschan.
Am 8. 5. passierten viele deutsche Soldaten (meist bespannte Einheiten) Dobritschan.
Ihr Ziel: Die amerikanischen Linien ! Manche Soldaten trennten bereits ihre Rangabzeichen
von den Uniformen. Gegen Abend ebbte der Strom ab. Ruhe kehrte ein: Keine Amerikaner,
keine Russen in Dobritschan! Ein Hauch von Frieden legte sich über den Ort.
Kriegsende - Frieden auch für uns ?
Am 9. 5. vormittags fuhr ein russisches Aufklärungsfahrzeug (Halbkettenfahrzeug
mit montierten MG auf der Ladepritsche) durch das Dorf Bald danach begann die wilde
Jagd. Bespannte russische Einheiten jagten mit Galopp durchs Land. Wenn die Pferde
erschöpft waren, tauschten sie diese zum Leidwesen der betroffenen Bauern gegen
frische Pferde aus. Nachdem sich die Tiere erholt hatten, stellte manch Bauer fest,
dass es ein guter Tausch war. Auch eine motorisierte Einheit traf ein, ausgerüstet
mit nagelneuen dreiachsigen Lastkraftwagen aus amerikanischer Produktion. An den LKWs
hingen Pakgeschütze, vielleicht auch aus Amerika. Auf einer unscheinbaren Anhöhe
- Bellevue genannt - in unmittelbarer Nähe des Dorfes ging die russische Einheit
in Stellung. Gegen wen wohl ? Die Russen bestanden auf unsere Unterkunft und so mussten
wir in kürzester Zeit unsere Baracke räumen. In der Hopfendarre, in der zuvor
die KZ-Häftlinge untergebracht waren, fanden wir eine neue Bleibe. Der Eigentümer
mit seiner Frau hatte sich in der Nacht vom 8. zum 9. Mai umgebracht. Für uns
wurde das Stroh nicht erneuert, sodass uns bald Läuse und anderes Ungeziefer befielen.
Am späten Nachmittag, wenn wir auf unserem Stroh lagen, marschierten die russischen
Soldaten singend durch das Dorf. Es war immer das gleiche Lied. Offensichtlich versuchten
die Offiziere, die im Siegesrausch außer Rand und Band geratenen Soldaten zu
disziplinieren.
Nach dem Waffenstillstand brachten die Rotarmisten sich und auch ihre Uniformen in
Ordnung. Dabei konnte man sehen, welch wenig Kleidung sie hatten. Während ihre
Uniformen zum Trocknen auf der Wäscheleine hingen, liefen sie in Unterhemd und
Unterhosen herum, was bei dem schönen Maiwetter kein Problem war. Zugleich wurde
die Zeit zum Haarschneiden genutzt, der kahlgeschorene Schädel anschließend
eingeseift und rasiert. Wie jede Truppe verpflegten sie sich aus dem besetzten Land,
d. h. sie holten sich die Lebensmittel und das Schlachtvieh bei den Bauern. Meine Mutter
hatte einmal in der russischen Feldküche auf dem Bauernhof, wo Jarausch untergebracht
waren, ausgeholfen. So fiel auch für uns etwas vom köstlichen Schmorfleisch
ab.
Kurz nach der Kapitulation wurde einem Teil der Wilkauer Bauern - auch Jarausch - die
noch verbliebenen Pferde gestohlen.
Rückkehr nach Wilkau
Uns in der Hopfendarre ließen die Tschechen weitgehend in Ruhe. Sie wollten aber
die Flüchtlinge möglichst bald los sein. So entschlossen sich die Wilkauer
unter dem Treckführer Kelch freiwillig oder von den Tschechen gezwungen, die noch
verbliebenen Gespanne in Dobritschan zu lassen. In einem offenen Güterwaggon verstauten
sie ihre persönliche Habe. Zwei alte Männer bewachten den mit einer Plane
zugedeckten Waggon. Mit wenig Handgepäck begann die Rückfahrt am nächsten
Morgen und in der Tat, der Güterwaggon wurde an den Zug angekuppelt. Ohne Zwischenfälle
ging die Fahrt in Richtung Dresden und endete auf der Grenzstation Tetschen-Bodenbach.
Dort mussten wir den Zug verlassen. Der Güterwaggon wurde auf ein Abstellgleis
rangiert und die zwei wachhabenden Männer verjagt. Tschechen, mit dem Reifengummi
von Kinderwagen bewaffnet, schnappten sich einige Wilkauer Jungen, die die Bahnsteige
und Gleise säubern mussten. Nach längeren Verhandlungen bestiegen wir zwei
oder drei Viehwaggons. Der Waggon, in dem wir den Großteil unserer Sachen in
Dobritschan verladen hatten, blieb in Teschen-Bodenbach zurück. Er sollte nie
in Wilkau ankommen. Mit großer Mühe hatten die Mütter ihre Söhne
freibekommen, wobei Frau Wasner (Postwasner), als sie kniefällig die Tschechen
um Herausgabe der Jungen anflehte, Schläge bekam. Die Fahrt ging nicht nach Sachsen,
sondern in Richtung Reichenberg, dann weiter über Thannwald nach Hirschberg. Vor
der schlesischen Grenze mussten alle Gehfähigen die Waggons verlassen und zum
Zollhaus marschieren. Hier wurde kräftig gefilzt und konfisziert. In der Zwischenzeit
war Herr Mücke, der an Fleischvergiftung erkrankt war und deshalb im Waggon bleiben
durfte, verstorben. Er hatte in Dobritschan Fleisch gegessen, was zuvor die Russen
beim Schlachten liegen ließen oder weggeworfen hatten.
Es war ein wunderbarer Frühlingstag, als unser Zug durch das Riesengebirge fuhr,
als wenn wir Heimatlosen sehen sollten, wie schön unser " Schläsing"
ist. Von Hirschberg, wo der Tote deutschen Eisenbahnern übergeben wurde, ging
es bis in den Landkreis Jauer. Hier nahe dem einstigen Frontverlauf war der Eisenbahnbetrieb
noch nicht wieder aufgenommen worden. Wir marschierten in ein nahes Dorf, um dort zu
übernachten. Die Bewohner waren offensichtlich von der Roten Armee weniger behelligt
worden, weil diese möglichst schnell die bis zur Kapitulation noch nicht eroberten
Gebiete besetzen wollte. Es war ein sehr gepflegter, weiß getünchter Bauernhof,
in dem wir übernachteten. Mit einigen Wilkauer Jungen brach ich noch am Spätnachmittag
zur nahe gelegenen Schweinhausburg auf, ohne in sie einzudringen. Ein Verbotschild
mit dem Hinweis "Privatbesitz" hielt uns davon ab. Fast friedliche Verhältnisse
im Dorf. Ein Bauer brachte am Abend seine Stute zum Decken. Ich sah dies zum ersten
Mal. - Unsere Bauersleute besaßen einen deutschen Schäferhund. Stolz berichtete
die Bäuerin, dass ihr Hund einem russischen Offizier entlaufen sei, der ihn zuvor
gewaltsam mitgenommen hatte. Doch der Offizier kam an diesem Abend wieder, und wir
mussten mit ansehen, wie er mit seiner Beute von dannen zog. Am nächsten Morgen
hieß es zu Fuß weiter, das wenige Gepäck in den Händen tragend
durch weitgehend menschenleeres Land. Einige clevere Leute hatten Handwagen "organisiert".
Jarausch Hans fertigte aus Holzlatten eine zweirädrige Karre an. Als Räder
dienten unbereifte Fahrradfelgen. Ob er uns auch einen solchen Karren baute oder wir
unsere Habseligkeiten bei ihnen mit drauf tun konnten, weiß ich nicht mehr. Die
erste Nacht verbrachten wir in Groß-Rosen im Landkreis Schweidnitz. Wußte
jemand von den Wilkauern, das es hier seit 1940 ein Konzentrationslager gab? Aus Angst
vor Überfällen traute sich keiner in einem der leerstehenden Häuser
zu übernachten. So suchten alle Zuflucht in der evangelischen Kirche. In den nächsten
Tagen wurden wir schon mutiger, zumal die mitgebrachte Verpflegung zur Neige ging und
wir Nahrungsmittel in den verlassenen Anwesen suchen mussten. Gottlob waren alte Kartoffeln
in großen Mengen zu finden und Rhabarber wuchs in jedem Garten. So aßen
wir eine Zeitlang "Platzeks" (auf der Herdplatte gebackene Kartoffelpuffer)
und ungesüßten gekochten Rhabarber. Wir marschierten weiter in Richtung
Kostenblut und von dort auf der Autobahn in Richtung Breslau. Dadurch konnte man weitgehend
die Ortschaften meiden und sich ohne Landkarte leichter orientieren. Einmal tauchten
zwei oder drei Rotarmisten auf, die nach Brauchbarem aus waren. Einem unserer Männer
zogen sie die Stiefel aus, ein junges Mädchen wurde vor aller Augen vergewaltigt.
Dies erfuhr ich erst viele Jahre später, weil die Erwachsenen uns Kinder abgeschirmt
hatten. In Breslau waren die Russen dabei, einen etwa quadratförmigen Soldatenfriedhof
anzulegen. Die Arbeiten waren weit fortgeschritten. Die vier Eingänge flankiert
mit jeweils 2 Sockeln, auf denen noch heute jeweils 4 Panzer (T 34) bzw. 4 Geschütze
stehen, waren fertig gestellt. Restarbeiten gab es noch an den Gräbern. Irgendjemand
sagte, dass hier nur Offiziere bestattet seien. Er hatte Recht. Erst viel später
erfuhr ich, dass auch ein General der sowjetischen Luftwaffe, der am 11. 2. über
Breslau abgeschossen worden war, hier seine letzte Ruhe fand. Neben ihm, der zweimal
als "Held der Sowjetunion" ausgezeichnet worden war, gibt es noch 3 oder
4 weitere Träger dieser Auszeichnung unter den 650 dort bestatteten russischen
Offizieren. Ein Hinweis, wie verlustreich die Kämpfe um Breslau waren.
In Schlesiens Hauptstadt spürte man Brandgeruch und viele Gebäude waren bis
auf die Grundmauern zerstört. Um so mehr freuten sich alle, dass das altehrwürdige
Rathaus, eine Perle schlesischer Gotik, das Inferno ziemlich unversehrt überstanden
hatte.
In Breslau-Hundsfeld, wo wir übernachteten, war östlich der Reichsstraße
117 ein deutsches Gefangenenlager, in dem sich viele ehemalige Festungssoldaten befanden,
darunter auch Maskus Gottlieb, was wir damals aber noch nicht wussten. Nach seiner
Entlassung besuchte er uns in Wilkau. Stolz zeigte er uns seine Entlassungspapiere.
Dann holte er aus seiner abgewetzten Wehrmachtshose seine Kriegsorden hervor, die mir
mächtig imponierten. Ob Gottlieb seine Auszeichnungen durch die Gefangenschaft
schmuggelte oder sich die Wachen an die Kapitulationsabmachung vom 6. 5. 1945 hielten,
in welcher der Befehlshaber der 6. Russ. Armee der 1. Ukrainischen Front, General Glusdowski,
den Breslaukämpfern das Belassen ihrer Auszeichnungen zusicherte, werde ich nie
mehr erfahren. Von Maskus war niemand zurückgekehrt und so machte sich Gottlieb
gen Westen auf.
Das letzte Mal übernachteten wir in Bernstadt, in einer der vielen leerstehenden
Wohnungen. Man wusste nicht, was uns in Wilkau erwartete. So wollte man möglichst
früh und mit frischen Kräften dort ankommen. In der Bernstädter Zuckerfabrik
demontierten deutsche Kriegsgefangene die Maschinen.
Am 7. 6. 1945 waren wir laut Aussage von Anni Tischer (Ehefrau von Schmiedemeister
Tischer) wieder daheim.
Daheim - wirklich daheim ?
Schon von der Ferne sahen wir, dass die Kirche zerstört war. Später stellten
wir fest, dass Sakristei und Hauptaltar weitgehend unbeschädigt waren. Am Dorfeingang
begrüßten uns einige Frauen, die in einem inzwischen abgerissenen Haus links
vor der Kirche wohnten und das m. W. dem Gutsbesitzer Goldert gehörte. Sie klärten
uns über die Situation im Dorf auf, insbesondere, wo russische Truppen waren.
Um den Russen in Mittelwilkau auszuweichen, mieden wir die Dorfstraße und schlugen
den Feldweg ein, der westlich unmittelbar hinter den Gehöften parallel zur Dorfstraße
verläuft.
Ein weiteres russisches Militärkommando war in Niederwilkau (Goldert -Gut) stationiert.
Auch das gegenüber liegende Gut Jänike (Oberwilkau) unterstand diesem Kommando.
Als wir uns dem Hof von Jarausch näherten, tauchte ein russischer Offizier auf
einem Fahrrad auf. Viele Jahrzehnte später erfuhr ich im Zuge meiner Recherchen,
dass es der russische Kommandant von Mittelwilkau gewesen war. - Er konnte sehr gut
deutsch. Mit Hinweis auf die zurückgekehrten Eigentümer entfernte er einen
Beschlagnahmezettel an der Haustür.
Die polnische Besiedlung hatte noch nicht eingesetzt. Nur vereinzelt hatten sich Polen
in kleineren leerstehenden Anwesen niedergelassen. Einige verschwanden bald wieder.
Zusammen mit Frau Jarausch, Ilse und Hans nahmen wir bei uns Quartier. Ilse, Hans,
Gerda, Marthel und ich schliefen oben in der Stube, die von Jarausch in den letzten
Kriegsjahren für Evakuierte aus Köln ausgebaut worden war. Die Kölner
Frauen (Großstadtmenschen) mit ihrem rheinischen Temperament mischten die etwas
leicht "puritanischen" Dorfbewohner auf. Frau Jarausch und meine Mutter schliefen
in Parterre, um bei etwaigen Überfällen besser flüchten zu können.
Von Neuwilkau bis zum Kindergarten bzw. Gasthaus Ulbrich waren außer uns noch
Hanusa, Bresler, Teubner, Mücke und Tischer zurückgekehrt, wobei die Aufzählung
nicht vollständig sein dürfte. Wehrfähige Männer gab es kaum unter
den Heimgekehrten.
Herr Hanusa mit Angehörigen und Frau Teubner mit Familie waren im Januar nur über
die Oder bis Deutsch Steine Kreis Ohlau geflüchtet. Der einundsiebzigjährige
Bauer sah "ein weiteres Wegrennen vor dem Krieg" als sinnlos an. So blieb
er mit seinen Angehörigen auf dem Gehöft seines Bruders, während dieser
mit seiner Familie zur Flucht aufbrach. Im März kehrte die Gruppe ohne Pferd und
Wagen nach Wilkau zurück. Die Russen räumten dem alten Herrn eine Sonderstellung
ein, in dem sie ihn quasi zum Bürgermeister ernannten.
Mit der Rückkehr der "Dobritschaner" hatte sich die Anzahl der Deutschen
auf etwa zweihundert erhöht. Sieht man von den wenigen Russen auf den zwei Gütern
und einzelnen Polen, die vornehmlich die kleineren Gehöfte bevorzugten, einmal
ab, so war das Dorf gemessen an den früheren 1.300 Einwohnern ziemlich menschenleer.
Ein Bauerndorf ohne Haustiere, nicht einmal eine verwilderte Katze streunte herum.
Pferde und Kühe gab es nur bei den Russen in Mittel- und Niederwilkau.
Unsere Hauptsorge galt der Ernährung. Kartoffeln gab es genug. Die "Kubse"
von Jarausch hatten die Russen wohl schon im Winter geöffnet, um ihre in Wilkau
stationierte Fliegertruppe zu verpflegen. Nur einige hundert Meter von der Stelle entfernt,
wo die Luftwaffe 1944 ihre 5 Flugzeuge abgestellt hatte, legte die Rote Armee hinter
der abgebrannten Scheune des Bauern Heinze einen Feldflugplatz für 40 Doppeldecker
an und starteten von hier ihre nächtlichen Angriffe gegen Breslau. Die Kommandantur
befand sich in Neuwilkau, im roten Ziegelbau der Gutsarbeiter. Allerdings war bei unserer
Rückkehr die Fliegertruppe bereits abgezogen.
Auch jetzt noch holten ein oder zwei russische Soldaten fast jeden Tag mit einem Pferdewagen
Kartoffeln aus der Kubse für das Lazarett (Krüppelheim) in Namslau. Der ältere
russische Soldat schenkte uns sogar einmal ein Stück Brot.
Hanusas besaßen ein Pferd, das auffallend einige Fellabschürfungen hatte.
Dies lieh Frau Jarausch für ein paar Stunden aus, und wir steckten einige Furchen
mit Kartoffeln.
Lebensmittelvorräte, wie beispielsweise Mehl und Getreidekörner waren auf
den Bauernhöfen nicht mehr zu finden. ebenso auch kein ungedroschenes Getreide.
Die Bauern hatten den Drusch bereits weitgehend vor der Flucht getätigt. Doch
in der Scheune von Emma Henschel wurde Frau Jarausch mit meiner Mutter fündig.
Die Dreschflegel hingen noch an den dafür vorgesehenen Balken. Und während
ich hinter der Scheune aufpasste, hörte man das rhythmische Schlagen zweier Dreschflegel.
So hatten wir neben alten Kartoffeln auch Roggenkörner, die wir mühsam mit
der Kaffeemühle schroteten. Auf einem Hof gab es etwas Leinsamen. Allerdings scheiterte
die Ölgewinnung an der Siruppresse, die den erforderlichen Druck nicht aushielt
und zu Bruch ging.
Wir versuchten den Kopf- und Kleiderläusen Herr zu werden, die wir mit nach Hause
gebracht hatten. Meine Teilerfolge bei der Bekämpfung der Kleiderläuse erfüllten
mich mit Stolz. Schließlich konnte Mutter mit irgendwelchen Hausmitteln die Ungezieferplage
beenden.
Kaum zuhause, kam an einem frühen Morgen ein russischer Soldat auf einem "Panjepferd"
daher. Unter "dawai rabotasch" ritt er durch die ebenerdigen Räume.
Frau Jarausch und ihre Zwillingskinder Hans und Ilse gingen von da ab nach Mittelwilkau
zur Feldarbeit. Die deutschen Zwangsarbeiter bekamen dort auch etwas zu essen. In der
der Regel war es immer mittags und abends eine Art Kartoffel-Kraut-Suppe, auf der eine
Ölschicht schwamm und etwas glitschiges Brot. Zusätzlich gab es zu einer
der Mahlzeiten "Kascha", eine Art Graupenbrei.
Meine Mutter und wir drei Kinder blieben daheim, bestrebt, möglichst von niemand
gesehen zu werden. Wir rechneten jeden Tag damit, dass auch unsere Nachbarn zurückkommen
und das Leben sich wieder etwas normalisiert. Doch die Nachbarn blieben aus. Die Familie
Tomczak und das Ehepaar Karpow aus Neuwilkau kehrten heim, fuhren aber nach Trembatschau
bzw. Schmograu weiter. Eines Abends tauchte der Bauer Gustav Jarausch auf. Er hatte
sich trotz Sperrung der Oder-Neisse-Linie nach Wilkau durchgeschlagen, um sich ein
Bild von den dortigen Zuständen zu machen. Am nächsten Morgen verließ
er uns wieder. Von unseren Verwandten in Giesdorf. Krickau und Grambschütz war
niemand zurückgekommen, wie unsere Erkundigungen zu Fuß in ihren Heimatorten
ergaben. Meinen Großvater väterlichseits aus Wallendorf fanden wir bei seinem
Schwiegersohn in Nassadel vor. Eine entferntere Verwandte mütterlicherseits aus
Namslau war zurückgekehrt, brach mit ihrem Sohn kurz darauf zu ihrem Mann nach
Bayern auf, während einige Tage später ihre Schwester mit Sohn und Mutter
in Namslau eintrafen.
Ein Lied "Glocken läuten hell den Sonntag ein" machte die Runde. Der
Text ist als Anlage 1 beigefügt. Laut gesungen wurde es vor Angst nicht.
Überraschende Hilfe von einer Polin aus Trembatschau
Eines Tages tauchte Frau Nowak auf. Sie hatte den Weg zu Fuß von Trembatschau
zurückgelegt und wollte sehen, wer von den Wilkauern zurückgekommen war.
Die polnische Familie Nowak war 1938 aus der Wojewodschaft Lodz nach Trembatschau zugezogen.
Nach dem Polenfeldzug kam sie nach Neuwilkau. Meine Mutter hatte die kinderreiche Familie
wiederholt materiell unterstützt. Nach Kriegsende ging Frau Nowak mit ihren Kindern
- ihr Mann war bei der Getreideeinbringung tödlich verunglückt - wieder nach
Trembatschau, wo sie einen kleinen Bauernhof bewohnte.
Frau Nowak machte meiner Mutter Mut. Zusammen suchten sie nach brauchbaren Dingen in
den leerstehenden Anwesen. So fanden sie etwas Geschirr und sogar Bettfedern, die die
Dorffrauen an langen Winterabenden bereits geschlissen hatten und die für die
spätere Aussteuer bestimmt waren. Zerfetzte Inletts fanden sich auch. So kamen
wir wieder zu Betten. Auch einen transportablen Küchenherd (Kochmaschine) konnten
sie organisieren. Dieser sollte sich in der Folgezeit für uns als lebensnotwendig
erweisen. An anderer Stelle werde ich auf Frau Nowak nochmals zurückkommen.
Die polnischen Siedler kommen
Es waren weitgehend Bauern aus den polnischen Ostgebieten, die im August mit Pferd
und Wagen eintrafen. Manche brachten noch andere Haustiere und sogar ihre Pflüge
(keine Räderpflüge) mit. Seit dem 9. 5. 1945 hatten wir kaum politische Informationen,
somit auch keine Kenntnisse über die Westverschiebung Polens, die ehemals polnischen,
nunmehr sowjetischen Gebiete, geschweige denn über die Zahl der dortigen polnischen
Bewohner, die zwangsweise umgesiedelt wurden. So wussten wir auch nicht, dass die meisten
Neusiedler in den ehemaligen deutschen Ostgebieten aus Zentralpolen stammten, und der
polnische Staat große Mühe hatte, die so genannten wieder gewonnenen Gebiete
zu besiedeln.
"Erst gegen Ende 1948 wurde dort eine Bevölkerungszahl von über 60%
des Vorkriegsstandes erreicht. Laut Volkszählung vom 31.12.1948 bestand die polnische
Bevölkerung in den Westgebieten aus 5,526 Millionen Menschen. Davon waren rund
2,5 Millionen aus Zentralpolen (45,2%), 1,332 Millionen waren Repatrianten und Aussiedler
aus der Sowjetunion (24,1 %)" - (also auch aus den polnischen Ostgebieten), "0,936
Millionen waren Autochthone (16,9%) und 0,235 Millionen waren Reemigranten (4,2 %).
Bei dem verbleibenden Rest von 0,524 Millionen (2,5 %) handelte es sich um Kinder unter
vier Jahren (9,5 %), die z. T. schon in den Westgebieten zur Welt gekommen waren und
daher den genannten Gruppen nicht eindeutig zugeordnet werden "konnten."
(Gregor Thum : Die fremde Stadt - Breslau 1945 (Seite 133) 2003 bei Siedler-Verlag
Berlin)
Jarauschs machten die unteren Räume ihres Hauses frei und zogen nach oben. Einmal
nahm mich der polnische Bauer nach Namslau mit. Auf dem Ring angekommen, gab es Feueralarm.
Mit seinen zwei Pferden musste der polnische Bauer die Spritze zum Brandherd fahren,
kam aber gleich mit den Pferden zurück. In der Andreas-Kirch-Straße war
ein Transparent über die Straße gespannt. Es kündete vom Sieg im Jahre
1410 bei Grunwald (Tannenberg) über den Deutschen Ritterorden und vom Sieg 1945.
Von der zweiten Besiedlungswelle wurden auch wir betroffen. Der Hof von Jarausch wurde
geteilt. Eine polnische Familie fand nunmehr im Auszugshaus ihr Unterkommen. Wir aber
gingen freiwillig oder gezwungen nach Niederwilkau. wobei uns der polnische Bauer unsere
wenigen Sachen auf einem Pferdewagen nach dort transportierte. Wie schon erwähnt,
war in Nierderwilkau ebenfalls ein russisches Militärkomando stationiert. Mit
Hilfe deutscher Zwangsarbeiter wurde vornehmlich das Getreide (Aussaat 1944) geerntet
und gedroschen. Roggen und Weizen wurden in der Flockenfabrik eingelagert. Der größte
Teil davon ging in die Sowjetunion Beim Abzug der Roten Armee verblieb ein Teil des
Roggens den Polen. Das Goldert-"Schloß" stand leer, war bis auf ein
paar kaputte Scheiben und fehlende Möbel ziemlich unbeschädigt.
Die Russen waren im Verwalterhaus untergebracht. In den Arbeiterhäusern wohnten
Deutsche, das "Vogthaus", in dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hatte,
stand leer.
Wir zogen in eine Stube, die auch als Durchgang für eine andere Familie aus Oberschlesien
diente. Weitere Hausbewohner waren Frau Bastisch (Malermeister) mit ihren vier Kindern
im Alter von 1 bis 12 Jahren und Familie Reichel (4 Personen). Herr Reichel war Kraftfahrer
bei der Spedition Krichler gewesen. Es gab weitere Deutsche, sowohl auf dem Goldert-
als auch auf dem Jänikegut. Die übrigen Deutschen lebten in ihren Anwesen,
wobei der jeweilige polnische Besitzer über Art und Weise der Unterkunft entschied.
Wir in Niederwilkau waren in einer etwas besseren Situation: Die Russen, inzwischen
recht diszipliniert, waren in erster Linie an der Arbeitsleistung der Deutschen interessiert,
Übergriffe der polnischen Miliz gab es für uns erst nach Abzug der Russen.
Vor den Arbeiterhäusern befand sich ein Backofen. Eine ältere Frau beherrschte
noch die Technik des Brotbackens und ihre Hilfe wurde bereitwillig und gern angenommen.
Irgendjemand brachte ein Gerät mit dem man über offener Flamme kleinere Mengen
von Kaffeeersatz rösten konnte. Eine Zeitlang hatten wir kein Speisesalz mehr
und mussten auf Viehsalz zurückgreifen. Ein größerer Garten zwischen
den Arbeiterhäusern und der Schmiede lieferte uns ein wenig Gemüse. Solange
die Russen anwesend waren, gab es für die deutschen Zwangsarbeiter Essen, das
im Jänikegut von deutschen Frauen zubereitet wurde.
Meine Mutter hatte Glück, dass sie bald im Getreidelager der Flockenfabrik eingesetzt
und nach Abzug der Russen von den Polen übernommen wurde. So brachte sie jeden
Tag am Körper und im Ärmel ihrer Jacke versteckt Getreidekörner nach
Hause, die wir in der Nähe von Bernstadt in einer Getreidemühle gegen Naturalabzug
mahlen ließen. Auch gab uns der polnische Bauer. der in unserer früheren
Wohnung gezogen war, einen Teil der geernteten Kartoffeln ab, die wir zusammen mit
Jarauschs im Juni angebaut hatten. Um an Milch und Eier zu gelangen, ging meine Schwester,
manchmal war auch ich dabei, zu einer älteren Polin betteln. Als Gegenleistung
boten wir unsere wenigen Kartoffelschalen an. Sie wohnte in einem der Golderthäuser
außerhalb des Gutes und zwar auf der linken Straßenseite kurz vor Jänike,
wo die Dorfstraße vorbei an Golderts Park sich wieder nach Süden wendet.
Die Frau war bitterarm. Ein geeigneter Stall für ihre Kuh war nicht vorhanden.
So brachte sie ihre Kuh in einer der Stuben unter, wo sie besseren Schutz vor etwaigen
Dieben fand. Manchmal scheuchte uns die alte Frau schimpfend von dannen, doch meisten
gab sie uns ein wenig Milch oder ein Ei.
Einmal machte ein Trupp Rotarmisten in Niederwilkau Quartier. Sie waren mit einer größeren
Kuhherde in Richtung Osten unterwegs. Nachdem wir nicht genügend Platz hatten,
schlief ich mit einem Soldaten in meinem Bett. Ich war hundemüde, sodass Angstgefühle
- schließlich galten die Russen immer noch als unsere Feinde - kaum aufkamen.
Mitten im Hof des Goldertgutes lag die Schmiede. Hier arbeitete der frühere Gutsschmied
August Goliberzuch für die Russen. Irgendwann hatte meine Mutter herausgefunden,
dass auf dem Schmiedeboden mehrere Rollen Bindergarn lagerten. Mehrmals schlichen meine
Schwester und ich in der Abenddämmerung zur Schmiede und holten vom Boden nach
und nach fast ein Dutzend Rollen des wertvollen Bindergarns.
Im Übrigen konnte auch Hans Jarausch mit Hilfe von Hans Bresler fast unter den
Augen der Russen eine größere Anzahl von Bindergarnrollen in Mittelwilkau
organisieren. Clever wie er war, hatte er sich aus der leerstehenden Seilerei an der
Straße nach Namslau das Gerät zur Herstellung von Seilen beschafft. Mit
Hilfe seines polnischen Bauern betrieb er einen lebhaften Handel mit Stricken, welche
die polnischen Landwirte dringend benötigten.
Wir dagegen brachten unser Bindergarn zu der bereits schon erwähnten Frau Nowak
in Trembatschau und erhielten dafür einige Lebensmittel. Und noch etwas muss erwähnt
werden: Nach dem die Rote Armee Wilkau besetzt hatte, spannte Frau Nowak den zweiten
in Neuwilkau noch vorhandenen Ochsen ein und kehrte nach Trembatschau zurück.
Im Winter 1945/46 wurde der Ochse geschlachtet. Meine Mutter und ich waren dazu eingeladen.
Am nächsten Morgen kehrten wir mit einer Portion Fleisch nach Wilkau zurück.
Frau Nowak, noch in Wilkau wohnend, hatte einen guten Kontakt zur katholischen Geistlichkeit
in Namslau. Als Anfang Januar 1945 die letzte Colende in Wilkau war, besuchte Pfarrer
Stosiek, uns Ministranten dabei zurücklassend, auch die polnische Familie Nowak.
Eine Zeitlang gab es während des Krieges hin und wieder in Wilkau polnische Gottesdienste.
Wir Jungen durften nicht ministrieren. So übernahm der Tischlermeister Schöbel
den Ministrantendienst.
Nach dem Krieg lud Frau Nowak Kaplan Rimpler und meine Mutter nach Trembatschau ein.
"Hochwürden" in der Soutane, auf seinem Rücken im Kartoffelsack
eine geschenkte Gans, so machte er sich zu Fuß zusammen mit meiner Mutter auf
den Heimweg.
An Weihnachten 1945 erinnere ich mich nicht mehr so recht. Hungrig, kein Baum, keine
Kerzen. elektrisches Licht gab es bis zu unserer Vertreibung im Oktober 1946 nicht.
Wie hätten wir auch den Strom bezahlen sollen?
Die seelsorgliche Betreuung der Deutschen
Für uns Rückkehrer war es beruhigend und tröstlich zu erfahren, dass
die beiden Namslauer katholischen Geistlichen nicht geflüchtet waren und auch
die Peter-Paul-Kirche mit ihren sakralen und liturgischen Schätzen den Krieg heil
überstanden hatte. So machten wir uns sonntags zu Fuß nach Namslau zum Gottesdienst
auf, wobei wir den Weg über die Reichsstraße wählten. Die Abkürzung
über Kleinwilkau und Deutsch Marchwitz war uns zu unsicher. In Namslau machte
die polnische Miliz regelmäßig Jagd auf deutsche Kirchgänger, und wem
sie habhaft wurde, der musste den Sonntag über Zwangsarbeit leisten. So war der
sonntägliche Kirchgang für die Erwachsenen besonders risikoreich.
Als ich einmal eine Messe besuchte - es war eine stille Messe - war der Zelebrant kurz
vor Ende der Handlung, als einige polnische Fahnenabordnungen mit Gefolge in die Kirche
marschierten und sich vorn postierten. In großer Eile beendete der Geistliche
mit dem Johannesevangelium den Gottesdienst. Über die Seitengänge verließen
wir etwas verstohlen das Gotteshaus.
1945 versuchte Kaplan Rimpler einigen deutschen Kindern etwas Schulunterricht zu erteilen.
Auch meine jüngste Schwester und ich suchten deshalb einmal das Namslauer Pfarrhaus
auf. Wir waren eine kleine Gruppe von Kindern. Auf dem "Stundenplan" etwas
Deutsch und Rechnen, aber vor allem Religion. Die drei Strophen von "Inmitten
der Nacht, als Hirten erwacht ..." kann ich noch heute. Doch eine Fortsetzung
des Unterrichtes gab es nicht. Er wurde polnischerseits - von welcher Instanz auch
immer - verboten. Nachdem Kaplan Rimpler nach einiger Zeit nach Frankenstein (?) versetzt
wurde, übte der betagte Pfarrer Stosiek allein die Seelsorge aus. Als 1946 verstärkt
die Vertreibungen aus Schlesien einsetzten, war es nur eine Frage der Zeit, wann auch
wir an der Reihe sein werden. Da keiner so recht wusste, was uns erwartete, drängte
Pfarrer Stosiek die infrage kommenden Eltern, ihre Kinder zum Beicht- und Kommunionunterricht
zu schicken. In wenigen Stunden wurden die Kinder auf den Sakramentenempfang vorbereitet.
Am Tag der Erstkommunion meiner Schwester nahm ich weder am Gottesdienst noch an der
sich anschließenden bescheidenen Feier teil, denn ich war beim Kühehüten.
1945 hielt einmal ein evangelischer Pastor einen Gottesdienst im Goldertgut (Vogthaus)
ab. Zum ersten Mal nahm ich an einem evangelischen Gottesdienst teil. Die Messe in
Deutsch und die zentrale Bedeutung der Predigt beeindruckten mich sehr.
Als die Rote Armee abzog, behielt meine Mutter ihre Arbeit in der Flockenfabrik. Die
Arbeitsbedingungen änderten sich unter den neuen Herren nicht. Die "Entlohnung"
bestand in der heimlichen Mitnahme von Getreidekörnern. Sollte es einige Zloty
gegeben haben, so reichten diese höchstens für Salz, Zucker und Streichhölzer.
Für uns, die wir in unmittelbarer Nachbarschaft zur Roten Armee gewohnt hatten,
war es nicht nur eine materielle, insbesondere ernährungsmäßige Schlechterstellung.
Es fiel auch der Schutz der Roten Armee vor Übergriffen und Willkürakten
der polnischen Miliz fort, was wir nunmehr verstärkt spürten.
Die Soldaten der Roten Armee entledigten sich z. T. ihrer Eierhandgranaten, indem sie
diese einfach über die Mauer des Goldertparks warfen. Nicht alle explodierten.
Ein Blindgänger wurden den beiden acht- und sechsjährigen Kindern der Familie
Neumann zum Verhängnis. Sie hoben den "roten Gegenstand" auf, wussten
nicht so recht, was sie damit anfangen sollten und warfen ihn achtlos fort. Als die
Handgranate explodierte, hatten sie Glück. Sie trugen keine lebensbedrohlichen
Verwundungen und auch wohl keine dauerhaften gesundheitlichen Schäden davon.
In einem anderen Fall fanden wir Jungen ebenfalls einen Blindgänger. Als wir um
ihn herumstanden, ergriff Hans Sch. einen etwa halbgroßen Ziegelstein und holte
zum Wurf aus. Wir wussten nicht, ob er Ernst oder Spaß machen wollte und kehrten
aber blitzschnell auf dem Absatz um. Schon krachte es hinter uns. Wir und auch der
Ziegelwerfer kamen mit dem Schrecken davon. Lediglich sein Gesicht und teilweise seine
Kleidung waren mit feinstem Ziegelstaub bedeckt.
Knecht und Hütejunge bei einem polnischen Bauern
Im Frühjahr 1946 nahm ich wie andere Kinder auch meinen Dienst bei einem polnischen
Bauern auf. Er stammte aus der Gegend von Kowel (Ostpolen) und war nunmehr Besitzer
des Heinzelmannhofes (Ortsbauernführer). Um es gleich vorweg zu sagen: Ich hatte
es gut getroffen.
Irgendwie hatten die Bauersleute Schwierigkeiten mit meinem Vornamen. So wurde ich
kurzerhand in Edmund umbenannt.
Ziemlich früh am Morgen (jeweils von Montag bis einschließlich Sonntag)
trat ich meinen Dienst an, der erfreulicherweise mit einem Frühstück begann.
In der Regel bestand dieses aus einer wohlschmeckenden Sauerampfersuppe mit Brot. Dann
trieb ich zwei Kühe, eine Kälbin und drei oder vier Schafe auf die brachliegenden
Felder hinter dem Hof. Meistens war ich nahe dem Goldertpüschel. Auf dem Feld
lag ein gut erhaltenes Pferdeskelett. Von hier konnte ich auf das menschenleere Gut
Hohenwilkau sehen und den spärlichen Verkehr auf der Reichsstraße 117 beobachten.
Einmal kam eine Pferdewagenkolonne in Richtung Osten vorbei. Am Sattel- und Handpferd
war jeweils ein Pferd angebunden, ebenso am hinteren Wagenteil und manchmal auch am
Schwanz des vorderen Pferdes. Es waren Zivilisten, vornehmlich Frauen, die Kolonne
bildeten. Fast täglich war ein gummibereifter roter Traktor zu sehen. Auffallend
seine fast um die Hälfte verkürzte Vorderachse. Einen solchen Traktor hatte
ich zuvor nicht gesehen. Offensichtlich wohl ein Fahrzeug aus westeuropäischer
oder amerikanischer Produktion. Zuweilen verkehrten auf der Eisenbahnstrecke Wilkau-Bernstadt
Dampflokomotiven, die die Aufschrift "UNRRA" trugen und einige Bauern bekamen
wohl auch von dieser UN-Unterorganisation Pferde (Mustangs?) zugeteilt, deren Hufe
bis dahin kein Schmied behandelt hatte. Auch erhielten die Polen Lebensmittel aus dem
Westen. Meine Vesperbrote waren ab und zu mit köstlichem Dosenfett bestrichen,
das aus diesen Lebensmittellieferungen stammte. Besonders gut erging es mir, wenn anstelle
der Bäuerin der Bauer meine Brotzeit für das Feld herrichtete. Er schmierte
nicht nur dick Fett auf das Brot, sondern höhlte sogar dafür etwas das Ränftel
aus. Er sprach als einziger der Familie etwas Deutsch und manchmal hörte ich:
"Is sich Edmund wie mein Sohn."
Es war üblich, den Kühen die Vorderbeine mit einem Strick zusammen zu binden,
sodass sie nicht so schnell weglaufen konnten. Das nutzte ich aus, einmal das Goldertpüschel
zu erkunden. Hier entdeckte ich Gerätschaften zum illegalen Schnapsbrennen. Sie
gehörten meinem Bauern. Über Mittag kamen Kühe und Schafe in den Stall.
Ich hatte dann den Stall auszunisten, mit neuer Streu zu versorgen und noch sonstige
Hofarbeiten zu verrichten. Erinnerlich ist mir die Mithilfe beim Kuhkalben und Ferkelkastrieren.
Nach dem Mittagessen hatte ich etwas Pause. Am Nachmittag ging es wieder hinaus aufs
Feld. Nach dem Abendessen bekam ich etwa 1 l Milch für daheim. So konnte ich wenigstens
etwas für meine Angehörigen tun. Nach der Ernte erhielt ich einige Pfund
Roggen- und Weizenmehl. Auch durfte meine Mutter für den Eigenbedarf Kartoffeln
vom Feld des Bauern holen.
Begegnung mit der Miliz
Die Miliz war gefürchtet. Es gab Verhaftungen. So wurde Herr Hoffmann eines Tages
von der Miliz abgeholt und nach Namslau gebracht. Was ihm vorgeworfen wurde, weiß
ich nicht. Herr Hoffmann starb noch in derselben Nacht. Eines Tages sah ich bei den
Arbeiterhäusern auf dem Jänikegut den damals zwanzigjährigen Salossnig
Erich, der im Zickzack einem Milizmann davon rannte und bald hinter einer Hausecke
verschwand. Was vorausging, habe ich nicht erfahren. Der wohl betrunkene Milizmann
gab mit seinem Karabiner einen Schuss ab, ob gezielt oder als Warnung in die Luft,
konnte ich so schnell nicht sehen. Auch weiß ich nicht, ob es ein Nachspiel in
dieser Sache gab. Einige Männer schlug die Miliz zusammen. So den infolge einer
Kriegsverwundung einarmigen Hanusa Robert und den buckeligen Dorffrisör Emil Gladis,
den die Miliz daheim besuchte. Auch der siebzehnjährige Neumann Hans wurde von
zwei Milizmännern zusammengeschlagen. Dazu die Vorgeschichte: Hans hatte zwei
oder drei Tage bei meinem Bauern ausgeholfen. Es war mittags, und wir befanden uns
auf dem Hof, als ein Milizmann mit seinem Fahrrad vorbeifuhr. Er machte plötzlich
kehrt und kam zu uns. Als Dolmetscherin fungierte die im Auszugshaus lebende Polin.
Der Milizmann befahl, Hans am Nachmittag zur Miliz. Ich sollte sofort vorbeikommen
und setzte seine Fahrt in Richtung Dorfmitte fort. Mein Bauer war zufällig nicht
anwesend. Seine Frau meinte, ich möge erst seine Rückkehr abwarten. Diese
verzögerte sich. So trieb ich wie gewohnt das Vieh auf die Weide. Nachdem zwischenzeitlich
sich auch keiner mehr von der Miliz hatte blicken lassen, hoffte ich im Stillen, ungeschoren
davon zu kommen. Doch kaum auf dem Feld, holte man mich zurück. Inzwischen hatte
die Miliz nach mir gefragt, und auch der Bauer war wieder daheim. So machten wir uns
beide auf den Weg zum Freigut bzw. Fröhlichgut, wie es auch manchmal genannt wurde.
Eigentümer war der Gutsbesitzer von Niederwilkau (Goldert). Nun war dort die Milizstation.
Zwei Milizmänner fanden wir vor. Im ersten Raum waren in einem Gewehrständer
aus Holz einige Karabiner abgestellt. Im nächsten Raum musste mein Bauer, der
nicht von meiner Seite weichen wollte, mit einem der Männer zurückbleiben.
Das Vernehmungszimmer war karg ausgestattet. Auffallend der große Schreibtisch,
hinter dem der Milizmann Platz nahm. Um seine Macht zu demonstrieren, legte er einen
Gummiknüppel auf die linke Seite des Schreibtisches. Aus der Schublade holte er
ein Blatt Papier und einen Bleistift und begann mit der Vernehmung. Währenddessen
stand ich links vom Schreibtisch. Der erste unsinnige Vorwurf: Ich hätte im Goldert-Park
Hühnereier gestohlen. Dann die Frage, wann der Neumann Hans zu mir die verdammten
polnischen Schweine gesagt habe. Mit meiner wahrheitsgemäßen verneinenden
Antwort unzufrieden, schlug er einmal mit dem Gummiknüppel zu. Ich fing zu heulen
an. Plötzlich ein Poltern draußen vor der Tür und fast gleichzeitig
fielen mein Bauer und der andere Milizmann in das Zimmer. Offensichtlich hatte mein
Bauer den Milizmann etwas unsanft beiseite geschoben. Mein Bauer gehörte während
des Krieges dem polnischen Militär an, welches auf sowjetischer Seite gekämpft
hatte. Werktags trug er meistens seine ausgediente Uniform. Vielleicht war es dies,
was den jungen Milizmännern einigen Respekt einflößte. Jedenfalls endete
die Vernehmung. Allerdings bekam ich von dem anderen Milizmann noch einige Schläge
ins Gesicht. Und nachdem man mir eingeschärft hatte, dass ich die Miliz entsprechend
zu grüßen habe, konnten wir gehen. Mein Bauer war außer sich und schimpfte
den ganzen Weg. Noch heute denke ich dankbar an diesen mutigen Mann zurück. Leider
war er schon verstorben, als ich das erste Mal nach der Vertreibung Wilkau besuchte.
Hans ging es nicht so gut wie mir. Er wurde von den zwei Milizmännern kräftig
zusammengeschlagen.
Es haben noch andere Jugendliche Schläge von der Miliz bekommen, sodass es sich
wohl nicht um zufällige, sondern um geplante Übergriffe handelte.
Die Vertreibung
Erstaunlich, wie wir bald nach Kriegsende wussten, wo unsere Angehörigen abgeblieben
waren. Eine großartige Leistung der Suchdienste.
Dass mit uns etwas passieren müsse, war jedem seit dem Sommer 1946 klar. Wer die
offizielle Vertreibung nicht abwarten wollte, fuhr nach Breslau, wo ständig Transporte
abgingen. So verließen uns u. a. Lehrer Kartschoke, Frau Jarausch mit Ilse und
Hans sowie Robert Hanusa und noch andere.
Der 10. 10 1946 war für uns der Beginn der Vertreibung. Kurz zuvor war mittels
Aushang bekannt gegeben worden, wie viel Gepäck pro Person mitgenommen werden
darf und dass Verpflegung für mehrere Tage mit zu bringen sei. Wie befohlen, formierten
sich die Wilkauer auf der Dorfstraße zu einem Zug. Polnischerseits gab es einige
Pferdefuhrwerke. Ob diese nur für die Nichtgehfähigen, Kleinstkinder und
Alte bestimmt waren, weiß ich leider nicht. Mein Bauer, der ein Pferd besaß,
stellte auch einen Wagen, auf den wir zusammen mit anderen die wenigen Habseligkeiten
verstauten. Andere genossen eine solche Bevorzugung nicht. In Namslau ging es zu einem
Platz in der Nähe der Kaserne. Ich weiß nicht mehr, ob die Wagen bereits
entladen waren, als die Aktion mit der Begründung, "es gäbe keine Waggons"
abgeblasen wurde. Von einer etwa 14-tägigen Terminverschiebung war die Rede. Zum
Glück, die Pferdefuhrwerke waren noch da, und wieder ging es zurück nach
Wilkau. Schlüssel für unsere Behausungen hatten wir von Anfang nicht. Während
unserer kurzen Abwesenheit hatte man unsere Unterkünfte amtlich versiegelt. Eine
polnische Amtsperson war bei unserer Rückkunft nicht zugegen. Wir entfernten ohne
große Bedenken die Papiersiegel und zogen wieder ein.
Damals wohnten wir zusammen mit anderen deutschen Familien schon seit längerer
Zeit im Goldert-"Schloß"". Dort hatten die Polen nach Abzug der
Russen die Deutschen aus den Arbeiterhäusern der beiden Güter (Goldert und
Jänike) konzentriert untergebracht, als weitere polnische Siedler nach Wilkau
strömten. Wir hatten ein sonniges Zimmer im ersten Stock "erwischt".
Sogar die Tapeten hingen noch an den Wänden.
Die missglückte Vertreibungsaktion hatte für uns Folgen. Meine Mutter sah
ein, dass wir unser Gepäck wohl gar nicht tragen könnten und auch nicht durch
die polnische Kontrolle bringen würden. So verschenkte sie noch einige Gebrauchsgegenstände
an meine Bauersfrau. Als wäre nichts geschehen, trat ich am nächsten Morgen
wieder meinen Dienst an. Kaum mit der Herde auf dem Feld, lösten mich die Kinder
des Bauern ab, denn es war ein neuer Ausweisungsbefehl ergangen.
Und wieder sammelten wir uns auf der Dorstraße. Die gleiche Prozedur wie am Vortag,
nur dass an diesem Tag ein Verwandter meines Bauern das Pferdefuhrwerk stellte. Nachdem
wir auf dem Platz vor der Kaserne unsere Sachen abgeladen hatten, wurden diese durchsucht
und manches konfisziert. Weshalb die Kontrolleure Mutters Sparbuch beschlagnahmten,
weiß ich nicht. Kurz darauf wurden mit Schreibmaschine Waggonlisten gefertigt.
Je Viehwaggon wurden etwa 35 Personen bestimmt, darunter jeweils ein Waggonführer.
Der Transportzug bestand aus etwa 53 Waggons. Die Vertriebenen waren weitgehendst Dorfbewohner
des Kreises Namslau. Die Wilkauer (188 Personen) verteilten sich auf die Waggons Nr.
46 34 Personen (Waggonführer August Goliberzuch, Schmied) , Nr. 47 35 Personen
(Waggonführer Paul Kaschig, Bauer), Nr. 48 36 Personen (Waggonführer Georg
Teubner, Stellmachermeister), Nr. 50 35 Personen, davon 20 Wilkauer (Waggonführer
Josef Schikora, Invalide), Nr. 52 34 Personen (Waggonführer Richard Otto, Bauer)
und Nr. 53 36 Personen, davon 29 Wilkauer und 7 Eisdorfer (Waggonführer Paul Schmied,
Schmiedemeister). Die Personenlisten für der Waggons Nr. 46 und Nr. 53 (Fundstelle
Brandenburgisches Landeshauptarchiv in Potsdam) sind als Anlagen 2 und 3 beigefügt;
ferner auch jeweils eine Liste der Vertriebenen aus Wilkau ( Anlage 4 ) und der Waggonführer
(Anlage 5). Die diesbezüglichen Namen sind den Waggonlisten entnommen, die - wie
bereits erwähnt - sich im o. a. Archiv befinden.
In den Viehwaggons gab es nur den blanken Boden, kein Stroh, keine Sitzmöglichkeit,
von sanitären Vorkehrungen ganz zu schweigen. Als sich der Zug mit etwa 1800 Personen
(darunter 16 Säuglinge) in Bewegung setzte, sangen die Vertriebenen das Lied "Harre
meine Seele, harre des Herrn ..." Außer, dass mir die Fahrt ewig lang vorkam,
erinnere ich mich kaum daran. In Kohlfurt mussten alle getrennt nach Geschlechtern
in ein nahes Gebäude (Bahnhofsgebäude?). Zwei Männer erwarteten uns
auf der Männerseite mit einer großen Spritze in den Händen. Und eh
wir uns versahen. bekamen wir eine Ladung weißes Pulver im Nacken unter das Hemd
gesprüht, dann kurz auf der Vorderseite den Hosenbund nach vorn gezogen und wieder
gab es reichlich DDT-Pulver. Es staubte wie in einem Mehllager. Als wir zu den Waggons
zurückkamen, waren unsere Habseligkeiten ebenfalls mit einer weißen Pulverschicht
bedeckt. Zu unserer großen Überraschung gab es in Kohlfurt eine englische
Militärmission, die aber nicht groß in Erscheinung trat. Ihre Aufgaben blieben
uns verborgen. In Kohlfurt bekamen wir das erste Mal was zu essen: Brot und Salzhering.
Die Nahrungsmittel stammten noch aus Namslau. Auch wurden wir ab Namslau von mehreren
Milizsoldaten begleitet. Bei Forst überquerten wir die Neiße. In Berlin
hatte der Zug längeren Aufenthalt. Wir hatten die Schiebetür des Waggons
geöffnet und schauten auf die arg zerstörte Stadt.
Dann hieß es, das für uns vorgesehene Lager in der Gegend von Rathenow sei
bereits belegt. Und nach einiger Zeit setzte sich der Zug in Richtung Süden in
Bewegung. Irgendwann passierten wir KönigsWusterhausen. Einer der Männer
im Waggon erzählte etwas vom Deutschlandsender. Unser Ziel: Das
Umsiedlerlager Küchensee in Storkow im Landkreis Beeskow ( heute Landkreis
Oder-Spree)
Das Umsiedlerlager am 28.6.1946 als solches eröffnet, bestand aus 11 Holzbaracken
und 3 Baracken aus Leichtbauplatten und war ursprünglich für die Wehrmacht
errichtet worden.
Für die Vertriebenen oder die Umsiedler, wie auf Anordnung der SMAD nunmehr die
offizielle Bezeichnung lautete, standen je Waggon 2 Stuben zur Verfügung. Auf
der linken Seite unserer Stube in Baracke III war ein einstöckiges Holzgestell,
welches von Wand zu Wand reichte und lediglich in der Mitte einen schmalen Gang aussparte.
Ähnlich war es auch auf der rechten Seite. Doch hier war das Holzgestell nicht
so breit, weil auf dieser Seite ein Kanonenofen stand. Ferner gab es einen Tisch und
einige Stühle. Für ältere Leute war die obere Etage der Liegestatt nur
sehr beschwerlich zu erreichen. Ich suchte mir links oben in der Ecke meinen Schlafplatz
aus. Am nächsten Morgen: die große Überraschung. An den Armen hatte
ich viele rote Flecke. Meine Mutter ging mit mir zum Lagerarzt, der Wanzenstiche diagnostizierte.
Auf mich hatten es die Wanzen am meisten abgesehen, während die anderen Mitbewohner
weitgehend von diesem Ungeziefer verschont blieben.
Laut dem im Brandenburgischen Landeshauptarchiv vorhandenen Küchentagebuch waren
am 15.10.1946 (Ankunft des Transportes) 1.784 Personen und 16 Säuglinge zu verpflegen.
Die täglichen Rationen betrugen: 300 g Brot, 10 g Fett, 20 g Fleisch, 300 g Kartoffeln,
etwa 300 g Gemüse, 20 g Nährmittel, 13 g Salz und 5 g Kaffee-Ersatz. Die
Säuglinge bekamen 20 g Zucker und 30 g Nährmittel. Außerdem gab es
45 l Milch (1 l für 40 Personen). Die Milch wurde wohl deshalb nur an Kinder verteilt.
Der Anteil der Kinder bei den Vertriebenen war hoch. So waren unter den 188 Wilkauern
42 Kinder von 1 bis 9 bzw. 58 Kinder (30,85%) von 1 bis 13 Jahren.
Brot, Fett und Zucker wurden jeweils am Morgen verteilt. Eigentlich hätte es dazu
einer Briefwaage bedurft. Hunger machte sich breit.
Wir waren unter Quarantäne gestellt, d. h. wir durften etwa 14 Tage das Lager
nicht verlassen. Am dritten Tag erfolgten die ärztliche Untersuchung und eine
Schutzimpfung gegen Typhus. Daran schloss sich die Entlausung an, die noch zweimal
wiederholt wurde. ( Anlage 6 - Registrierschein - Fundstelle Brandenburgisches Landeshauptarchiv).
Nach der Quarantänezeit gingen einige Jungen und ich in die Stadt Storkow. Eine
Frau sprach uns an und erzählte uns traurig, dass ihr Sohn - nicht viel älter
als wir - von der Rote Armee wegen angeblicher Wehrwolfzugehörigkeit verschleppt
worden sei. Dies war kein Einzelfall, wie wir später auch in Zehdenick feststellen
konnten. Ab dem 30. 10. leerte sich allmählich das Lager. Ein Teil der Vertriebenen
fuhr zu Verwandten. Am glücklichsten waren die, welche in die amerikanische Zone
reisen durften. Auch wir warteten sehnlichst auf die Zuzugsgenehmigung nach Niederbayern.
Die meisten aber blieben im Land Brandenburg. Die einstigen Heimatorte wurden bei der
Verteilung nicht berücksichtigt. Mit einer größeren Gruppe, darunter
71 Wilkauer ging es mit dem Zug nach Zehdenick in der Uckermark. Zwar trägt die
Transportliste (Anlagen 7 und 8) das Datum 6. 11., doch ist laut Küchentagebuch
an diesem Tag und an den Tagen bis einschließlich 9. 11. kein größerer
Abgang festzustellen. Somit dürfte die Verlegung nach Zehdenick am 10.11. erfolgt
sein.
Zehdenick/Havel endgültiges Domizil
Wer kannte schon Zehdenick, eine Stadt im Kreis Templin in der Uckermark.
Diesmal war die Eisenbahnfahrt nicht so lang und statt der Viehwaggons gab es Personenwaggons
für jeweils 30 Personen. Unweit vom Bahnhof Zehdenick befand sich das Gasthaus
"Schützenhaus", in dessen Tanzsaal (heute nicht mehr vorhanden) ein
Strohlager uns erwartete. Nach einer ärztlichen Untersuchung am 11.11.1946 erhielten
wir bis zum 13.11. "Marschverpflegung" , wohl zur Überbrückung
bis zum Erhalt der Lebensmittelkarten gedacht (Anlage 9 Flüchtlingsausweis). Uns
wurde ein Unterbringungsplatz in der Liebenwalder Straße zugewiesen. Mit unseren
wenigen Habseligkeiten, ich in einer langen Hose, die meine Schwester in Wilkau aus
einer alten Decke genäht hatte und mit von Frau Neumann geborgten Schuhen - zogen
wir quer durch die Stadt. Unser Ziel war ein einstöckiges Bürgerhaus.
Die Besitzerin war eine Arztwitwe, welche aus einer evangelischen Pfarrersfamilie stammte.
In ihrem Haus war ihr Sohn mit Frau und drei Kindern untergekommen. Zwangsweise hatte
sie ein älteres "Havelschiffer"-Ehepaar aufnehmen müssen, deren
Wohnung von der sowjetischen Marine beschlagnahmt worden war. Auf der Zehdenicker Werft
wurden damals sowjetische Schnellboote überholt und die sowjetische Marine brauchte
Unterbringungsmöglichkeiten für die Matrosen.
Der Arztwitwe waren noch zwei größere Zimmer, eine kleine Küche und
ein Bad geblieben. Sie weinte und wollte uns nicht aufnehmen. So marschierten wir wieder
zurück zum Schützenhaus in der Hoffnung, eine andere Bleibe zugewiesen zu
bekommen. Die städtische Behörde bestand auf ihre ursprüngliche Entscheidung.
So ging es wieder, diesmal mit einer "Amtsperson", in die Liebenwalder Straße
zurück. Der Behördenvertreter verschwand bald. Wir, meine Mutter, meine zwei
Schwestern 15 und 10 Jahre sowie ich Dreizehnjähriger landeten schließlich
im Keller in der Waschküche, ein etwa zwölf qm großer Raum, zwei Betten,
ein Tisch mit einer Bank bzw. Stühle, eine ausgediente Wehrmachtskiste für
die Lebensmittel. So hausten wir von November 1946 bis in den März 1947. Zwei
Gründe mögen dafür verantwortlich gewesen sein, dass sich meine Mutter
gegen diese menschenunwürdige Behandlung nicht gewehrt hat. Zu einem hofften wir
immer noch auf die Zuzugsgenehmigung nach Niederbayern, zum anderen waren die zwei
gut bürgerlich eingerichteten Zimmer, die die Arztwitwe noch besaß, nicht
separat zugänglich. So hätte die alte Dame entweder bei uns oder wir bei
ihr durchs Zimmer gehen müssen, was für beide Parteien mehr als ungenehm
gewesen wäre.
Später als im Haus mehr Platz wurde, bekamen wir ein und nach einiger Zeit ein
zweites Zimmer.
Die Beziehung zwischen der Besitzerin und uns besserten sich. So durfte ich in ihrer
Abwesenheit Radio hören. Meistens war es RIAS (Radio im amerikanischen Sektor),
der von der US- Army in Westberlin betrieben wurde. Überrascht war ich, als ich
einmal auf einen Sender mit der Pausenzeichen-Melodie: "Christus vincit, Christus
regnat, Christus imperat" (Christus siegt, Christus regiert, Christus herrscht)
stieß. Es war Radio Vatikan mit seiner deutschen Sendung. So hörte ich,
wenn ich Gelegenheit hatte, meistens RIAS bzw. Radio Vatikan.
Für unser Zurechtfinden und Eingliedern in der neuen Heimat erfuhren wir viel
Hilfe durch die katholische Kirche am Ort. Keine materielle! Wo sollte diese in dem
ausgeplünderten und übervölkerten Land herkommen? An dieser Stelle muss
ich auf die besondere Situation der katholischen Kirche in Zehdenick eingehen. Als
Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn von Löwenberg nach
Templin errichtet wurde, entdeckte man beim Brückenbau über die Havel bei
Zehdenick große Tonvorkommen. In der Folgzeit entstanden bis zu 50 Ziegeleien.
Eisenbahn und Schifffahrt auf der Havel sorgten für einen preisgünstigen
Abtransport der Ziegel. Die Ziegeleien, meistens entlang der Havel hatten eigene kleine
Häfen für die Lastkähne. Die Schifffahrt nahm einen großen Aufschwung.
Berlin sei seinerzeit zur Hälfte mit Zehdenicker Ziegeln erbaut worden, hieß
es. Saisonarbeiter aus Oberschlesien und aus der Provinz Posen, aus dem russischen
und österreichischen Polen strömten in das neu erschlossene Industriegebiet.
Ein Teil blieb in Zehdenick. Da die meisten der Zuwanderer katholisch waren, entstand
in der brandenburgischen Diaspora 1901 eine katholische Pfarrei mit einer neu erbauten
Kirche.
Als wir nach Zehdenick kamen, war die Blütezeit der Ziegelindustie längst
vorbei. Es gab aber eine recht lebendige katholische Gemeinde, die sich über jeden
Zuwachs freute. So wurden wir mit offenen Armen aufgenommen. Bald gab es eine rege
Katholische Jugend dort. Als Mitglieder des Bundes Deutscher Katholischer Jugend trugen
wir stolz das Mitgliedsabzeichen, ein winziges silbernes Kreuz. In den ersten Jahren
nach dem Krieg wurde die kirchliche Jugendarbeit behördlicherseits weitgehend
nicht behindert.
Ein zweiter Integrationsfaktor war für mich die Schule. Nach fast zwei Jahren
ohne Schule, davon die meiste Zeit unter Polen lebend, hatten wir schulisch vieles
versäumt. Als wir dem Rektor der Zehdenicker Robert-Heinrich-Volksschule vorgestellt
wurden, prüfte er die Einmaleinskenntnisse von meiner Schwester und mir. Sie waren
unbefriedigend. So kam sie mit ihren fast 11 Jahren versuchsweise in die Klasse 3,
ich - damals dreizehnjährig- landete ebenfalls versuchsweise in Klasse 5. Gegenüber
früher herrschte ein neuer Geist in der Schule. Es gab keine Prügelstrafe.
Viele ältere Lehrer hatten wegen früherer Parteizugehörigkeit den Dienst
quittieren müssen. Ein Teil der Lehrer war noch in Kriegsgefangenschaft. So waren
es weitgehend Junglehrerinnen und Junglehrer, teilweise aus den deutschen Ostgebieten,
die hoch motiviert den Schuldienst ausübten. In die Schule konnte man durchaus
gern gehen, war unsere Erfahrung. Und wir hatten in der Vergangenheit viel versäumt
und nunmehr viel nachzuholen. Und wir holten auf und erlangten als Flüchtlingskinder
bzw. Umsiedlerkinder, wie es offiziell heißen musste, Anerkennung und Gleichbehandlung
in der Schule. Ein Umstand der unsere Integration wesentlich beschleunigte.
Anlage 1
Glocken läuten hell den Sonntag ein,
über Berge muss die Heimat sein.
Nach dem Osten richtet sich der Blick,
man lässt uns in die Heimat nicht zurück.
Wolken, Vögel, die ihr oben fliegt,
traget heim ihr diese Sehnsuchtslied;
einen Gruß an unser Schlesierland,
das gefallen ist in Feindeshand.
Der schönste Platz, den ich auf Erden hab,
das die Rasenbank am Elterngrab;
auch dieses ist uns heut nicht mehr vergönnt,
weil wir so weit, so weit von ihr getrennt.
Wir mussten fliehen aus unser'm Heimatort,
verlassen Haus und Hof und alles dort;
schuldlos verarmt treibt man uns hin und her
es findet eins das andere nimmermehr.
Familien so ganz zerrissen sind,
hier die Mutter, dort ihr Kind.
Der Bauer sucht sich mühsam nur sein Brot
Und dort die Lieben leiden bittre Not.
Manch alter Vater, altes Mütterlein
steht nun auf dieser Welt so ganz allein !
Ihr einziger Sohn, ihre Stütze und ihr Glück
ist aus Gefangenschaft noch nicht zurück.
Als Landser irrt verzweifelt er umher,
kann nicht zurück, hat keine Heimat mehr;
geht bis zur Neisse und versucht sein Glück
-der Feind weist ihn erbarmungslos zurück.
Das ist der Lohn für seine Tapferkeit;
Mach End' o Herr und wende diese Zeit;
Bring uns zurück ins schöne Schlesierland,
wo einst schon unser Väter Wiege stand.
Nur die Hoffnung ist's, die viele hält
Und der Verzweiflung nicht zum Opfer fällt.
In tiefster Dunkelheit kommt auch mal Licht,
drum arme Schlesier verzaget nicht!
Nur in der Heimat gibt's ein Wiederseh'n -
o, Gott, erhöre unser täglich Fleh'n,
führ uns zurück an Deiner lieben Hand
in unser einst so schönes Schlesierland !
Dieses Gedicht ist ein Zeitdokument (stammt angeblich von einem Landser). Im Juni 1945
kam es auch nach Wilkau. Melodie: Müde kehrt ein Wandersmann zurück...."
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